BBC Radio 4 hat eine Sendung, in der die Kommentare und Beschwerden der Hörer:innen über die BBC-Ausgaben diskutiert werden. Als ich diese Sendung das letzte Mal hörte, war ein grosses Thema die «Nachrichtenmüdigkeit». Einige schrieben, dass sie wegen der unablässigen Berichterstattung über den Krieg zwischen Israel und Palästina aufgehört haben, die Nachrichten zu hören. Andere sagten, dass sie einfach nicht mehr damit fertig werden, von Tötungen und Traumata in einem so grossen Ausmass zu hören. Es ist sicherlich erschütternd, aber ich denke, wir müssen uns damit auseinandersetzen. Während sich das Grauen entfaltet, habe ich versucht, mich über die Nachrichten auf dem Laufenden zu halten. Aber ich fühle mich wirklich nicht qualifiziert, eine endgültige Aussage über diesen schrecklichen Konflikt zu machen.
Ein Beitrag von David Frost, übersetzt aus dem Englischen von Jasmin Kolb.
Etwas Positives
Obwohl ich mich nicht zum Krieg äussern möchte, dachte ich, es wäre an der Zeit, etwas Positives über die Arbeit einer Kollegin zu erzählen. Vor vielen Jahren gründete Hanan Ramahi eine Schule in Ramallah im Westjordanland. Sie und ihre Partner:innen wollten bessere Möglichkeiten für die Palästinenser:innen schaffen. Daraufhin nahm sie sich eine Auszeit, um in Cambridge zu promovieren und es zog sie zum Thema der «non-positional teacher leadership» hin. Ich hatte das Privileg, ihr Betreuer zu sein und freute mich, dass sie 2018 ihren Abschluss machte.
Der Titel von Hanans Dissertation lautet «Teachers leading school improvement and education reconstruction in Palestine». Sie hat sich mutig für eine Aktionsforschungsstudie entschieden, bei der es darum ging, ein Programm zur Unterstützung von Lehrer:innen als Agent:innen des Wandels an ihrer Schule ins Leben zu rufen und zu begleiten. Sie war sich der Ressourcen bewusst, die für die Finanzierung eines Studiums in Cambridge erforderlich sind und wollte deshalb sicherstellen, dass ihre Arbeit Auswirkungen auf den Wiederaufbau des Bildungswesens in Palästina haben wird.
Forschung kann ein bisschen wie Nachrichtenreportage sein: einfach zusehen und Notizen machen, während die Welt in einem Handkarren zur Hölle fährt. Natürlich ist es wichtig zu beobachten, was passiert und zu versuchen, die Welt darüber zu informieren. Aber einige Forscher:innen haben sich dafür entschieden, zu versuchen, die Situation zu verändern. Die Gültigkeit der Aktionsforschung ist umstritten (McTaggart 1998) und es ist eine besonders herausfordernde Art und Weise, an eine Doktorarbeit heranzugehen, aber Hanan war getrieben, etwas Konstruktives zu tun. Als Praktikerin im Westjordanland war sie sich der Besonderheit des Kontextes bewusst und wusste um das transformative Potenzial von Bildung.
«Bildung hat die Fähigkeit zu verändern: Menschen zu befähigen, zu angepassten, produktiven und einflussreichen Menschen zu werden. Als Palästinenser empfinde ich dies als eine dringende Angelegenheit für das leidgeprüfte und enteignete Volk von Palästina.»
Ramahi 2017
Im Rahmen von Hanans Projekt wurde an ihrer Schule in Ramallah ein Programm zur Unterstützung von Lehrkräften ohne Lehrauftrag eingeführt. Sie nannte es «Teachers Leading the Way». Im Laufe von zwei Jahren hat das Programm erhebliche Auswirkungen. Denn es versetzt Lehrkräfte in die Lage, Veränderungen einzuleiten, die sich aus der Reflexion über ihre eigenen Werte und Anliegen ergeben.
Durch den Dialog mit einer Reihe von Kolleg:innen in der Schule konnte jede Lehrkraft sicherstellen, dass ihr Projekt einen willkommenen Beitrag zur Entwicklung der Praxis in der Schule leistete. Die Schwerpunkte der Lehrer:innenprojekte ähnelten denen, die wir in Grossbritannien, Kasachstan oder Bosnien und Herzegowina gesehen haben. Typische Projekttitel sind beispielsweise: «Verbesserung der Schülerbeziehungen in der vierten Klasse» oder «Verbesserung des IT-Lernens in den Klassen fünf bis 12».
Handlungsfähigkeit und Emanzipation
Noch bemerkenswerter sind die Belege in Hanans Dissertation, die die transformative Wirkung auf die Lehrer:innen, die an ihrem Programm teilgenommen haben, belegen. Hanan bezeichnet den Prozess als emanzipatorisch in seiner Wirkung. Eine Auswahl der Kommentare der teilnehmenden Lehrkräfte veranschaulicht dieses Gefühl der Emanzipation.
«Unsere Gesellschaft erlaubt es uns nicht, eigenständig zu denken oder unsere individuellen Gedanken auszudrücken. (Jetzt) werde ich meine eigenen Probleme lösen. Ich bin der Eigentümer der Idee und der Lösung.»
Munir, Lehrer der Sekundarstufe
In Munirs Kommentar sehen wir einen Hinweis auf den sozialen Kontext. In ihrer Arbeit beschreibt Hanan die Geschichte Palästinas als durch viele Jahre des Kolonialismus, der Unterdrückung und der Entrechtung geprägt, die die Handlungsfähigkeit der Fachkräfte untergraben.
«Ich habe gelernt, dass man unabhängig vom Problem den Schlüssel in der Hand hat und nicht darauf warten sollte, dass jemand die Lösung findet. Fangen Sie selbst an und Sie werden die Lösung finden und ein Innovator werden.»
Naim, Grundschullehrerin
In diesem Kommentar feiert Naim ihr neu gewonnenes Gefühl der Selbstständigkeit und Handlungsfähigkeit.
Wenn die palästinensischen Lehrer:innen in die Lage versetzt werden, ihre Stimme zu erheben und Führungsqualitäten zu entwickeln, könnte dies weitreichende Folgen haben. Hanan argumentiert, dass die Ermöglichung dieses Prozesses dem gesamten palästinensischen System helfen würde, eigene Lösungen für festgefahrene Probleme zu entwickeln und soziale Institutionen zu stärken. Neben ihrer Promotion arbeitete Hanan an einem von der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Auftrag gegebenen Bericht «Education in Palestine: Current Challenges and Emancipatory Alternatives».
In der Einleitung zu dem Bericht erklärte der Programmleiter der Stiftung, dass der Bericht Teil eines Programms ist, dass verschiedene Organisationen, Akademiker:innen und soziale und politische Aktivist:innen im Land befähigen und darüber hinaus die Methoden und Instrumente der Bildung verbessern soll, um einen Beitrag zu einem systematischen und fruchtbaren Kampf an den sozialen und nationalen Fronten zu leisten.
In dem Bericht beschreibt Hanan viele Beispiele für innovative Projekte, darunter das Projekt «Selbstdarstellung unter Jugendlichen; die bunte Nachbarschaft», welches in Ramallah und Gaza-Stadt durchgeführt wurde. Das Bild auf der Vorderseite des Berichts zeigt, wie junge Menschen in die Lage versetzt wurden, ihre Stadtviertel zu verändern.
Auf die Zukunft konzentriert
Die herzzerreissenden Nachrichten über den Krieg haben mich veranlasst, diesen Blogbeitrag zu schreiben. Die Situation sieht düster aus, aber als Pädagog:innen müssen wir über die Qualen des Augenblicks hinausblicken und uns auf die Kraft der Bildung konzentrieren, um verändern und wieder aufbauen zu können. Lehrer:innen im gesamten Nahen Osten brauchen die Unterstützung, die sie in die Lage versetzt, auf eine Zukunftsvision hinzuarbeiten, die auf Hoffnung, Toleranz und Liebe beruht. Genau dies hat Hanan Ramahi gezeigt: dass die Befähigung von Lehrer:innen möglich ist.
INFOBOX Das Zentrum Management und Leadership plant im Rahmen der Angebote zu Teacher Leadership eine Studienreise nach Cambridge zu David Frost und dem HertsCam-Projekt. Geplant ist die Studienreise vom 1. – 3. Mai 2024. Anmeldungen sind ab Ende November möglich.
Zum Autor
David Frost ist Co-Direktor des HertsCam Netzwerks und emeritiertes Mitglied des Wolfson College in Cambridge. Er hat seine Karriere als Lehrperson in England begonnen und wechselte 1980 an die Universität. Seither versucht er Wege zu entwickeln, wie Lehrpersonen zu agents of change an Schulen werden können. Für das Buch «Teacher Leadership – Schule gemeinschaftlich führen» hat er einen Beitrag beigesteuert.
Dieser Beitrag ist auch auf Englisch erschienen.
Übersetzung: Jasmin Kolb
Titelbild: Homepage von David Frost