Matthias Held

5 Fragen an Matthias Held, Schulleiter der Schule für offenes Lernen

In unserer Rubrik «5 Fragen an…» interviewt Schulleiter Philippe Villiger den Schulleiter Matthias Held über seine Tätigkeit. Der Stafetten-Stab wird an ihn weitergereicht.

Matthias, du hast die Schule für Offenes Lernen in Liestal (SOL) seit 24 Jahren zusammen mit der Mitbegründerin Ruth Oechsli geleitet. Seit zwei Jahren, nach ihrer Pensonierung, führst du die Schule allein. Was verstehst du unter offenem Lernen?

Ich bin der Überzeugung, dass verbindliche Strukturen, also eine sichere Umgebung, grundlegende Bedingungen sind, damit sich Kinder mit Neuem auseinandersetzen können. Offenes Lernen heisst also eine Umgebung kreieren, wo sich ein Kind entwickeln kann und seine Bedürfnisse ernst genommen werden. Die Lehrer:innen begleiten die Kinder mit ihrem Wissen und ihrer Erfahrung aber vor allem mit einer unterstützenden Strukturierung der Lernumgebung und des Lernstoffes.

Offenes Lernen ist ein Begriff aus der Reformpädagogik. In der Freinet-Pädagogik findet man diesen Begriff bei den Lernwerkstätten, wo Kinder den Lernweg selbst wählen können. Ich habe meine Wurzeln bei der Freinet-Pädagogik und meine Kollegin ist Psychotherapeutin nach dem personenzentrierten Ansatz von Carl Rogers. Célestin Freinet und Carl Rogers verbindet das humanistische Menschenbild und die Würdigung der individuellen Entwicklung jedes Menschen.

Die SOL befindet sich in einem alten Fabrikgebäude. Man findet keine konventionellen Klassenzimmer vor, sondern grosszügige Räume und viel Platz für kreative Tätigkeiten. Wie ist eure Schule organisiert?

Das Schulhaus sieht eher aus wie eine sehr grosse WG.

Wir gestalten die Räume entsprechend den Bedürfnissen der Schulgemeinschaft und der Kinder. Damit können Schüler:innen zusammenarbeiten und diskutieren, ohne dass sie andere bei ihrer Arbeit stören. Wir nutzen auch die Gänge als Arbeitsorte und die Türen zu unseren Arbeitszimmern stehen offen. So besuchen wir uns gegenseitig im Unterricht und holen Material.

Auf unserem Areal gibt es Handwerker, Künstler, Büros, Grafiker, Dienstleister und vieles mehr. Wir sind eingebettet in einem lebensnahen Umfeld, wo Arbeit gemacht wird. Mit unserer Schule sind wir ein Teil davon. Wir bieten zum Beispiel mit unseren Schüler:innen am Mittag ein Bistro für unsere Nachbarn an und organisieren auch gemeinsame Anlässe auf unserem Fabrik-Areal.

Neben deiner Funktion als Schulleiter arbeitest du an der SOL auch als Lernbegleiter. Wie kann man sich einen normalen Schultag an der SOL vorstellen?

Den Schultag starten wir mit einem grossen Frühstücksbuffet. Die Kinder und Jugendlichen kommen aus der gesamten Region und haben teilweise einen Schulweg von einer Stunde. Die Schüler:innen spielen, diskutieren oder machen einen Match am Tischfussball. Für die Lehrer:innen ist dies eine wichtige Zeit. Wir sehen, wie das Kind in der Schule ankommt und können darauf reagieren. Um 8 Uhr beginnt der Unterricht für die Oberstufe und um 8.15 Uhr für die Primarstufe. Am Montag eröffnen wir die Schulwoche gemeinsam in einem Morgenkreis, um die Gemeinschaft immer wieder zu erleben.

Der Unterricht findet in Lerngruppen statt. Sie sind alters- und leistungsgemischt. Jeder bringt seine Fähigkeiten ein. Am Vormittag finden meistens zwei Unterrichtsfächer in Doppelstunden statt. Am Nachmittag gibt es vermehrt Sportangebote und musische Fächer. Als kleine Schule gehen wir sehr flexibel auf die individuellen Bedürfnisse ein und können den Stundenplan entsprechend anpassen.

Die Schüler:innen machen keine Hausaufgaben. Sie haben an ihrem Schultag Zeiten im Lernstudio. Dort arbeiten sie an ihren Hausaufgaben und werden von einer Lehrkraft begleitet. Für die Lehrer:innen ist dies ein wichtiger Einblick. Sie sehen, wie sich Schüler:innen sich mit dem Lernstoff auseinandersetzen und unterstützen sie beim Strukturieren. Diese Erfahrungen geben sie dem Lehrer:innenteam individuell oder an der wöchentlichen Teamsitzung weiter.

Am Donnerstagnachmittag machen wir eine Schulkonferenz mit allen Lehrer:innen und Schüler:innen.. Zwei Schüler:innen der Oberstufe leiten die Präsentationen der Mitschüler:innen und die Diskussion der traktandierten Themen sowie einen Wochenabschluss. Wir feiern in diesem Rahmen die individuellen Leistungen der Schüler:innen. Am Freitagnachmittag putzen wir zusammen das Schulhaus und bereiten es für die kommende neue Woche vor.

An der SOL werden Schüler:innen im Unterricht individuell gefördert und begleitet. Bei der Beurteilung ihrer Leistungen könnt ihr deshalb auch auf Noten verzichten, die sich insbesondere in der Volksschule stark an einer sozialen Bezugsnorm orientieren. Wie gelingt es euch, die Leistungen der Schüler:innen am Ende des Schuljahres, insbesondere mit Blick auf die Lehrstellensuche, ohne Noten bilanzierend auszuweisen?

Unsere Schüler:innen halten ihre Leistungen in einem persönlichen Portfolio fest, dem Jahresbuch. Im Laufe des Schuljahres werden Arbeiten von den Schüler:innen und uns ausgewählt und gesammelt. Zum Ende des Schuljahres schreiben sie ihren persönlichen Rückblick zu jedem Fach.

Das Lehrer:innenteam sammelt zu jedem Kind kurze Rückmeldungen und wählt Kinder aus, denen die Lehrer:innen jeweils einen persönlichen Jahresbrief schreibt. Für den Jahresbrief holt die Lehrperson auch die Rückmeldungen der Kolleg:innen ein.

Bei den Kind-Eltern-Lehrer:in-Gesprächen wird mit den Schüler:innen über die erbrachten Leistungen wie auch über persönliche Wünsche und Ideen für das Schulleben gesprochen.

Den Jahresabschluss feiern wir dann mit den Eltern und Gästen mit einem grossen Fest. Die 9. Klässler präsentieren dabei ihre Abschlussarbeiten.

Ihr geniesst an der SOL eine grosse Gestaltungsfreiheit. Welche Themen werden euch in Zukunft beschäftigen?

Ja das ist richtig. Diese Gestaltungsfreiheit bedeutet aber, dass wir die Schule finanziell selbst tragen müssen. Bevor der Kanton die umfassende Integration aller Kinder in die staatlichen Schulen umsetzte, wählte uns die Bildungsbehörden für bestimmte Schüler aus, weil wir Möglichkeiten haben, welch die staatlichen Schulen nicht bieten können. Seit einigen Jahren hat aber für die Kantone die Integration oberste Priorität. Dies muss in den eigenen Schulen umgesetzt werden. Vom Grundsatz her finde ich es absolut richtig. Es ist nur nicht durchführbar für alle Kinder.

Manchmal braucht es für ein besonders Kind eine andere Schule. Die reformpädagogischen Schulen sind auch ein Ideenschmieden und Orte, wo neue oder wiederentdeckte Lernformen ausprobiert und weiterentwickelt werden. Dies war schon immer auch eine Bereicherung für die staatlichen Schulen.

Da die Kantone überzeugt sind, dass sie für jedes Kind ein ihm entsprechendes Angebot haben, ohne Ausnahme, werden die Kosten für einzelne Schüler:innen an einer reformpädagogischen Privatschule nicht mehr übernommen. Die Eltern und die Schulen müssen sie allein tragen. Das ist für viele Eltern nicht möglich und damit ist der Zugang verwehrt.

Ich bin aber überzeugt, dass die Bildungsbehörden die Leistungen der reformpädagogischen Schulen wieder schätzen werden. Dafür braucht es Zeit und einen langen Atem.

Eine pädagogische Herausforderung ist es, den Eltern die Gewissheit zu geben, dass ihre Kinder in unseren reformpädagogischen Schulen für die Zukunft gut vorbereitet sind. Die ehemaligen Schüler:innen bestätigen uns dies und dass sie ihr Leben eigenständig und verantwortungsvoll in die Hände genommen haben. Wenn Eltern einen alternativen Bildungsweg wählen, sind sie oft verunsichert, weil sie vom vorgegebenen Weg abweichen. Wir sind aber überzeugt, dass viele Kinder nur so ihr Potenzial für sich und die Gemeinschaft finden werden.

Zum Autor

Philippe Villiger

Philippe Villiger’s grosse Leidenschaft ist der Sport. Seit seiner Jugend trainiert er fast täglich Judo und bestreitet viele Wettkämpfe. Trotzdem ist er überzeugt, dass in der Schule der Wettkampfgedanke im Hintergrund stehen sollte. Schüler:innen sollen individuelle Lernwege gehen und sich stressfrei entfalten können. Seit 2015 unterrichtet er an der Gesamtschule Schüpberg 1. bis 9. Klässler:innen und seit 2020 ist er Schulleiter.

Zur Person

Matthias Held

Matthias Held gründete gemeinsam mit Ruth Oechsli 1999 die SOL Schule für Offenes Lernen im Kanton Baselland. Er interessierte sich bereits in seiner Ausbildung zum Primarlehrer für alternative Schulkonzepte und im Besonderen für die Reformpädagogik mit ihrem humanistischem Menschenbild. So entdeckte er früh die Vielfalt und Offenheit der Freinet-Pädagogik und setzte sich später in seinem Psychologiestudium mit der humanistischen Psychologie auseinander. Die Konzepte der systemischen Psychologie prägen auch den Schulalltag der SOL und die Arbeit mit dem Lehrer:innen-Team. Seinen Ausgleich findet er in den Bergen, wo es ihn immer wieder hinzieht.

Redaktion: Melina Maerten
Titelbild: zVg

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