Philippe Villiger

5 Fragen an Philippe Villiger, Schulleiter der Gesamtschule Schüpberg

In unserer Rubrik «5 Fragen an…» interviewt Gesamtleiterin Florence Bernhard den Schulleiter Philippe Villiger zu seiner Tätigkeit. Der Stafetten-Stab wird damit weitergereicht.

1. Philippe, du leitest seit bald drei Jahren die kleine Gesamtschule Schüpberg (BE). Vorher hat Beatrice Friedli-Deuter die Schule über mehrere Jahrzehnte geführt und geprägt. Was nimmst du von ihren Ideen und Überzeugungen mit?

Vor der Übernahme der Leitung der Gesamtschule Schüpberg hatte ich das Privileg, mehrere Jahre mit Beatrice Friedli zusammenzuarbeiten und viel von ihr zu lernen. Sie hat eine Schule geprägt, in der immer die Schüler:innen im Zentrum stehen. Auch in schwierigen Situationen hat sie vor allem die Stärken der Kinder gesehen. Aufgrund dieser Haltung konnten an der Gesamtschule Schüpberg viele Kinder die Freude an der Schule zurückerlangen und gestärkt ins Berufsleben einsteigen.

Beatrice hinterliess eine Schule mit einer gewachsenen Schulhauskultur und vielen Ritualen. Die Schule wird getragen von einer starken Gemeinschaft aus ehemaligen Schüler:innen, Eltern, Lehrer:innen und anderen der Schule verbundenen Personen. Dadurch ergeben sich viele Ressourcen wie zum Beispiel für Projekte oder um Herausforderungen zu bewältigen. Beatrice hat die Lehrkräfte in ihrer Arbeit gestärkt und ihnen viel Gestaltungsfreiheit gelassen. Sie hat Rahmenbedingungen für Kreativität geschaffen und hatte den Mut, auch unkonventionelle Lösungen umzusetzen.

2. In eurer Schule werden seit über 200 Jahren Kinder von der 1. bis 9. Klasse unterrichtet. Für viele Aussenstehende ist ein Schulalltag mit so unterschiedlichen Alters- und Lernunterschiede unvorstellbar. Wie würdest du einen «normalen» Schulalltag beschreiben?

Unser Tagesablauf und Teile des Unterrichts sind stark ritualisiert. Die Schüler:innen wissen, was zu tun ist und können auch selbst in die Arbeit einsteigen. Dies erlaubt es den Lehrkräften, auf individuelle Bedürfnisse der Schüler:innen einzugehen. Zudem gibt es den Lehrpersonen viel Flexibilität bei der Gestaltung des Unterrichtsalltags, weil zum Beispiel auch mit einer Gruppe etwas erarbeitet werden kann.

Den Tag starten wir jeweils im Sitzkreis. Wir begrüssen die Kinder und verschaffen uns einen Überblick über den Tag. Danach starten wir täglich mit einer halben Stunde Fremdsprachenunterricht. Die kurzen und regelmässigen Unterrichtseinheiten erlauben es den Schüler:innen, konzentriert im Fremdsprachenunterricht mitzuarbeiten. Danach arbeiten sie an ihren individuellen Mathematikplänen oder nehmen in kleinen Gruppen an Inputs oder Einführungen teil.

Vor der grossen Pause werden die Lernhefte kontrolliert. Sie dienen der Planung des Unterrichts und der Hausaufgaben, der Rückmeldung und Reflexion des Unterrichts und des Lernens und dem täglichen Austausch mit den Eltern. Nach der Pause sind in der Wochenstruktur grössere Unterrichtsblöcke zu Literatur, Rechtschreibung, Lesetraining und zum «Freiforschen» vorgesehen.

Über Mittag essen die Lehrkräfte gemeinsam mit den Schüler:innen. Den Nachmittag starten wir mit einem Ruheritual, anschliessend wird während zwanzig Minuten Englisch- und Französischvokabeln gelernt. Am Nachmittag findet der Musik-, Gestaltungs- und Sportunterricht statt. Während des Tages gibt es viele Gelegenheiten für einen Austausch mit den Schüler:innen, der nicht direkt den Schulunterricht betrifft.

3. Eure Stärke liegt im stark individualisierten und kompetenzorientierten Unterricht. Erzähl etwas mehr darüber.

Eine grosse Heterogenität ist in fast jedem Klassenzimmer eine Realität. An der Gesamtschule Schüpberg ist diese sicherlich besonders ausgeprägt. Doch gerade die Offensichtlichkeit der grossen Heterogenität hält einem vom Versuch einer durch die Lehrkraft präzise gesteuerten Differenzierung des Unterrichtsmaterials ab. Eine solche wäre nicht durchgehend leistbar. Vielmehr gehen wir im Unterricht von einem gemeinsamen Gegenstand oder Thema für die ganze Klasse aus. Oft kann mit diesem Vorgehen bereits ohne grossen Aufwand der Lehrpersonen eine erhebliche innere Differenzierung stattfinden.

Ich denke dabei zum Beispiel an die Vorbereitung und Präsentation eines Französischdialogs, an einen Forschungsauftrag oder an das Verfassen eines Textes. Diese Aufträge können auf jedem Kompetenzniveau durchgeführt werden. Die Möglichkeiten, sich dabei zu verbessern, sind nie ausgeschöpft. Die Jüngeren profitieren dabei von den älteren Schüler:innen. Umgekehrt profitieren auch sie bei der Arbeit mit den Jüngeren durch zurückgreifendes Lernen. In anderen Bereichen ist jedoch eine ausgeprägte, durch die Lehrkräfte gesteuerte Individualisierung nötig. Zum Beispiel im Mathematikunterricht arbeiten die Schüler:innen oft in Kleingruppen und mit individuellen Arbeitsplänen.

Neben einer ausgeprägten Individualisierung beim Lernen hat auch eine gezielte Förderung der Klassengemeinschaft einen hohen Stellenwert. Dabei handelt es sich nicht nur um gemeinsame Anlässe mit den Eltern und Verwandten, um Ausflüge oder das tägliche gemeinsame Singen, sondern auch um das Lernen für die Gemeinschaft Verantwortung zu übernehmen. Deshalb reflektieren wir mit der Klasse täglich das Zusammenleben in der Schule und sprechen regelmässig über gemeinsame Umgangsformen.

Die Schüler:innen beteiligen sich neben der täglichen Reinigung des Klassenzimmers auch einmal in der Woche an der Instandhaltung des gesamten Schulhauses. Dabei erwerben sie Kompetenzen, die ihnen bereits in der Schnupperlehre von grossem Nutzen sind. Erfolgreiches Lernen gelingt in einer Gemeinschaft, in der alle Kinder in einer von gegenseitigem Respekt und Anerkennung getragenen Atmosphäre zusammenleben und daran teilhaben können.

Beurteilung ohne Noten
Bildquelle: zVg

4. Im Buch «Schule 21 macht glücklich» hast du über euer Beurteilungskonzept erzählt. «Individuelle Beurteilung statt Noten» ist der Titel deines Artikels. Ihr habt im Jahr 2016 die Noten abgeschafft. Was sind eure Erfahrungen seitdem?

Die Beurteilung ohne Noten erlaubt es uns, eine individuelle, förder- und kompetenzorientierte Beurteilung vorzunehmen. Wenn Schüler:innen wie im Lehrplan 21 vorgesehen individuelle Lernwege gehen und die unterschiedlichen Kompetenzstufen innerhalb eines Zyklus zu unterschiedlichen Zeitpunkten erreichen, muss sich auch die Beurteilung an diese Gegebenheit anpassen und viel individueller gestaltet werden. Dies bedeutet, dass die Beurteilung einerseits an einer individuellen Bezugsnorm, also dem Leistungsstand der Schüler:innen und andererseits an einer kriterialen Bezugsnorm, also den Kompetenzstufen des Lehrplans, ausgerichtet werden muss.

Die soziale Bezugsnorm, also die Leistung der Klasse, die für die Notengebung immer eine wichtige Rolle spielt, darf für die Beurteilung nicht mehr herangezogen werden. Nach einer Lernkontrolle oder einer Rückmeldung zu einem Produkt vergleichen sich die Schüler:innen nun kaum mehr untereinander. Vielmehr freuen sie sich über persönliche Lernfortschritte, die wir durch unsere Beurteilung sichtbar machen und sie versuchen, Tipps und Verbesserungsvorschläge umzusetzen. Es fällt mir seither auch leichter, negative oder ungenügende Rückmeldungen zu formulieren, weil sie nicht im Vergleich zu den Leistungen von anderen Schüler:innen stehen, sondern immer das Ziel einer möglichst guten Förderung des individuellen Lernens haben.

5. Die Gesamtschule Schüpberg ist eine idyllisch gelegene kleine Schule. Welche Themen wird euch in Zukunft beschäftigen?

An der Gesamtschule Schüpberg nehmen wir nebst den schulpflichtigen Kindern vom Dorf Schüpberg, das zur Gemeinde Schüpfen gehört, auch Kinder aus anderen Dörfern der Gemeinde. Es handelt sich dabei um Familien, die überzeugt sind, dass ihr Kind von dieser Schulform profitieren kann. Die Aufnahme von Schüler:innen aus anderen Dörfern gilt es sorgfältig vorzubereiten und durchzuführen.

Einerseits muss geklärt werden, inwiefern Schüler:innen, die zum Teil längere Schulwege auf sich nehmen, von unserer Schulform profitieren können. Andererseits ist es wichtig, an unserer Gesamtschule ein Gleichgewicht bezüglich Alter, Leistungsvermögen und Geschlecht zu wahren. Eine lebendige und vielfältige Lerngruppe ist die Basis für eine tragfähige Klassengemeinschaft.

Zur Person

Philippe Villiger

Philippe Villiger’s grosse Leidenschaft ist der Sport. Seit seiner Jugend trainiert er fast täglich Judo und bestreitet viele Wettkämpfe. Trotzdem ist er überzeugt, dass in der Schule der Wettkampfgedanke im Hintergrund stehen sollte. Schüler:innen sollen individuelle Lernwege gehen und sich stressfrei entfalten können. Seit 2015 unterrichtet er an der Gesamtschule Schüpberg 1. bis 9. Klässler:innen und seit 2020 ist er Schulleiter.

Zur Autorin

Florence Bernhard

Florence Bernhard ist ausgebildete Linienpilotin und liess sich nach dem Grounding der Swissair zur Primarlehrerin ausbilden. Sie hat auf verschiedenen Stufen und an unterschiedlichen Schulen unterrichtet, unter anderem an der Schweizer Schule in Bangkok. 2016 schloss Florence Bernhard den Master in Erziehungswissenschaften an den Universitäten Fribourg und Zürich ab (Schwerpunkt pädagogische Psychologie und Sonderpädagogik). Sie ist Dozentin für Fachdidaktik Natur, Mensch und Gesellschaft am Institut Unterstrass in Zürich und leistete Pionierarbeit im Projekt «kinderforschen.ch». 2013 gründete sie die private Tagesschule Gesamtschule Winterthur und führte diese erfolgreich 10 Jahre mit dem Schwerpunkt des naturwissenschaftlichen Forschens und Entdeckens. Nun engagiert sie sich in verschiedenen Projekten und berät und begleitet Schulen und Teams in ihren Entwicklungen.

Redaktion: Melina Maerten
Bilder: zVg

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