In unserer Rubrik «5 Fragen an…» interviewt Schulleiter Daniel Jeseneg die Gesamtleiterin Florence Bernhard zu ihrer Tätigkeit. Den Stafetten-Stab reichen wir an sie weiter.
Florence, du hast die Gesamtschule Winterthur vor etwa 10 Jahren ins Leben gerufen. Wie kam es dazu?
Durch meine Anstellung im April 2008 als Dozentin am Institut Unterstrass in Zürich habe ich die Gesamtschule Unterstrass AG von Prof. Dieter Rüttimann kennengelernt und gedacht: Eine solche Schule braucht es in Winterthur! Ein Jahr später habe ich den Entschluss gefasst, mit einem ähnlichen Konzept eine eigene Schule in Winterthur zu gründen. Die Eröffnung der Gesamtschule Winterthur (GSW) mit dem Profil des naturwissenschaftlichen Forschens und Entdeckens fand im August 2013 statt.
Ich finde es unglaublich lehrreich und spannend, pädagogische Konzepte zu gestalten und weiterzuentwickeln. In der Volksschule war diese Flexibilität durch vorgegebene Strukturen nicht überall gegeben. Nun kann ich voller Freude meine pädagogischen Ideen und Überzeugungen mit meinem grossartigen Team schnell und wirkungsvoll umsetzen.
Die Gesamtschule Winterthur ist dafür bekannt, das Lernen aus einer forschenden Perspektive zu betrachten. Wie lebt ihr das forschende Lernen?
Mittels einer übergeordneten Fragestellung erforschen wir mehrperspektivisch biologische, technische, physikalische und chemische Themenfelder. Dies machen wir mit der von mir konzipierten Lernumgebung «LaBüKo», Labor-Büro-Konferenzraum. Die Methode unterstützt die Kinder, einen reellen Forschungsablauf durchzuspielen und dabei eigenen Fragestellungen nachzugehen, Hypothesen zu bilden und diese im gegenseitigen Austausch zu bestätigen beziehungsweise zu widerlegen. Rückschlüsse und Beobachtungen werden sorgfältig dokumentiert.
Die Kinder arbeiten jeweils hoch konzentriert und engagiert mit und sind stolz darauf, eigene Fragen zu entwickeln, diesen theoretisch und experimentell nachzugehen und gemeinsam Lösungsansätze zu diskutieren und auszuloten. Mit der Zeit gelingt es ihnen immer besser, diese Vorgehensweise ohne Begleitung der Lehrpersonen anzuwenden, bis sie nach einigen Jahren selbstständig Forschungsprojekte und Fragestellungen anpacken. Dieser Kompetenzaufbau im naturwissenschaftlichen Lernen ist einer der wichtigsten Schwerpunkte der Gesamtschule Winterthur und fördert gezielt die naturwissenschaftliche Arbeits-, Denk- und Handlungsweisen gemäss Lehrplan 21.
Du bist überzeugt von altersdurchmischten Lerngruppen. Was sind für dich die wichtigsten Vorteile dieser Unterrichtsform, -organisation?
Für mich ist altersdurchmischtes Lernen mehrschichtig angelegt. Verschiedene Aspekte prägen diese pädagogische Alternative zu den Jahrgangsklassen, wie zum Beispiel Sozialisation und Erziehung, Unterrichts- und Schulkultur, Lernen, Leistung und Unterrichts- und Schulentwicklung. Im Folgenden greife ich die Aspekte «Erziehung, Sozialisation und Lernen» auf, weil mir diese in der Diskussion rund um das altersdurchmischte Lernen besonders relevant erscheinen.
Zur Sozialisierung und Erziehung gehören für mich die Förderung der überfachlichen Kompetenzen (LP21). Diese werden in altersdurchmischten Lerngruppen gelebt und gefördert. In einer AdL-Klasse lernen die Kinder verschiedenen Alters mit- und voneinander, der blockierende Vergleichsdruck fällt weg. Dies ist für die kognitive und soziale Entwicklung der Kinder sehr wichtig. Schüler:innen in AdL-Gruppen geben einander die Regeln des Zusammenlebens auf eine natürliche Art und Weise weiter. Ich beobachte sehr oft, dass sich die jüngeren Kinder gerne an älteren orientieren – diese sind ihnen Vorbilder für viele Kompetenzen und wirken motivierend. Ältere Kinder wiederum übernehmen mehr Verantwortung für das Zusammenleben im Schulzimmer, auf dem Pausenhof und in der ganzen Schulgemeinschaft.
Auch für das Lernen beobachte ich viele Vorteile in unseren altersdurchmischten Lerngruppen. Der mehrjährige Lernzyklus öffnet das Spektrum der Lernziele,–möglichkeiten. In unseren altersdurchmischten Lerngruppen (1. bis 6. Klasse) wird jedes Kind gezielt gefördert, weil es nach seinem Entwicklungsstand lernen kann. Es fühlt sich dadurch angenommen, kann seine Kompetenzen erleben und ist dadurch motiviert. Ebenfalls sehe ich täglich, wie sich Kinder viel Wissen beiläufig, vorausschauend und rückblickend aneignen. Kinder lernen voneinander oft leichter als von uns Erwachsenen. In unseren Lerngruppen können alle – auch leistungsschwächere Kinder – anderen etwas beibringen. Mich fasziniert immer wieder neu, wie sie hoch motiviert von- und miteinander lernen und dabei viele Erfolgserlebnisse erfahren.
Ihr praktiziert an eurer Schule einen sogenannten «Glücksunterricht». Was ist darunter genau zu verstehen?
Vor einem Jahr haben wir ein neues Format mit der Bezeichnung «Glücksunterricht – echt stark!» eingeführt. Alle zwei Wochen hatten die Kinder circa. 90 Minuten Unterricht zu Themen wie Achtsamkeit, Resilienz, Empathie, Selbstvertrauen und Umgang mit schwierigen Situationen.
Nach einigen Monaten haben wir Bilanz gezogen und gemerkt, dass ein isolierter «Glücksunterricht» nicht unseren Vorstellungen entspricht. Wir wollten diese Haltung und Kultur der Achtsamkeit und des gemeinsamen, respektvollen Umgangs ganzheitlich in unser schulisches Konzept integrieren und in allen Settings (Unterricht, Pausen, Kurse, individuelle Lerncoachings) sichtbar und erlebbar machen. Daraufhin habe ich die Lehrerin, welche sich zu diesem Thema intensiv weitergebildet hat, mit der neu geschaffenen Funktion als Lern- und Sozialbegleiterin beauftragt. Die Kinder werden nach den Grundsätzen des integrativen Unterrichts eng begleitet und erlernen im gemeinsamen Bewältigen von Konflikten und Herausforderungen kommunikative Fähigkeiten und einen achtsamen Umgang mit den eigenen Grenzen und Bedürfnissen anderer.
Welches sind deine brennendsten Themen als Gesamtleiterin, die die Gesamtschule Winterthur in den kommenden Jahren prägen werden?
Zurzeit beschäftigt mich die Frage: Wie können wir in unserem Schulsetting den Megatrends folgen? Dabei denke ich an Trends wie zum Beispiel Konnektivität, Individualisierung, New Work und Wissenskultur. «Der einzige Konstante ist die Veränderung», sagt der Philosoph Heraklit – neue Technologien werden unser Leben und unsere Arbeitswelten ständig verändern und wir werden immer wieder mit neuen Herausforderungen konfrontiert sein.
Was heisst das für das Bildungswesen? Wie können wir die Schulen zukunftsfähig machen? Wie können wir die Kinder wirksam auf die Arbeitswelt 4.0 vorbereiten und ihnen Kompetenzen und Strategien für ein selbstbestimmtes, ausgeglichenes Leben mitgeben? Diesen Fragestellungen nachzugehen, finde ich sehr spannend. Ich freue mich über Feedback, Ideen und Diskussionen.
Zur Person

Florence Bernhard ist ausgebildete Linienpilotin und liess sich nach dem Grounding der Swissair zur Primarlehrerin ausbilden. Sie hat auf verschiedenen Stufen und an unterschiedlichen Schulen unterrichtet, unter anderem an der Schweizer Schule in Bangkok. 2016 schloss Florence Bernhard den Master in Erziehungswissenschaften an den Universitäten Fribourg und Zürich ab (Schwerpunkt pädagogische Psychologie und Sonderpädagogik). Sie ist Dozentin für Fachdidaktik Natur, Mensch und Gesellschaft am Institut Unterstrass in Zürich und leistete Pionierarbeit im Projekt «kinderforschen.ch». 2013 gründete sie die private Tagesschule Gesamtschule Winterthur und führt diese erfolgreich seit 10 Jahren mit dem Schwerpunkt des naturwissenschaftlichen Forschens und Entdeckens.
Zum Autor

Daniel Jeseneg ist seit drei Jahren Schulleiter an der Schule Zeihen. Vorher war er als Klassenlehrer an den Schulen Wittnau, Laufenburg und Schleitheim tätig. Ursprünglich absolvierte er eine Berufslehre als Hochbauzeichner und liess sich an der Hochschule Luzern – Design & Kunst zum Filmschaffenden ausbilden.
Titelbild: zVg
Redaktion: Melina Maerten
Ein toller Bericht. Wirklich beeindruckend, was ihr an der Gesamtschule Winterthur macht. Herzlichen Glückwunsch!
Ganz herzlichen Dank, lieber Herr Fischer!