Rezension brauchbare Illegalität

Wie wichtig Organisationsregeln- und brüche sind

Vielleicht kann man den Professor für Soziologie, Stefan Kühl, auch als «Business Punk» oder «systemischen Querdenker» betiteln. Immer wieder nimmt er allgemeingültige Management- und Organisationsregeln auseinander und denkt sie anders. Auch in seinem neusten Buch. Johannes Bereitschaft mit der Rezension.

Stefan Kühl entwickelt die Gedanken des Soziologen Niclas Luhmann in seinem Buch zur «brauchbaren Illegalität» weiter. Nehmen wir an, dass alle Regeln und Anweisungen buchstabengetreu ausgeführt werden: Die Folge davon ist, dass eine Organisation auch bei noch so guter Planung immer schwerfälliger wird und sie an der rigiden Auslegung ihrer formalen Strukturen zerbricht, Kreativität kaum Platz findet, Neues seltener entsteht.

Was unterschiedliche Publikationen wie Talebs «Antifragilität» oder Wüthrichs «Musterbrecher» andeuten, wird hier durch Kühl gezielt aus Sicht der Organisationsperspektive thematisiert: In Zeiten, in denen die Einflussfaktoren Volatilität, Unsicherheit, Komplexität, Ambiguität (VUCA) eine immer höhere Bedeutung haben, kann man davon ausgehen, dass eine Organisation die Intelligenz vieler braucht. Diese beinhaltet auch das Gespür, welche Dehnungen oder Überschreitungen von organisationsbezogenen Regeln sinnvoll für das Ganze sind und die Organisation als solches weiterbringt – aus verwaltungsorientierter Sicht ein zumindest kühner Gedanke!

Ein Verhalten in Organisationen wird als «brauchbar illegal» bezeichnet, wenn es formalen Erwartungen widerspricht und diese Regelabweichungen für die Organisation als solches funktional sind. Gemäss Kühl sind schon heute Regelabweichungen vielfach so stark in Organisationen verankert, dass Organisationsmitglieder informale Erwartungen enttäuschen, wenn sie sich nicht an diesen beteiligen oder sie nicht dulden. Sie sind inzwischen zentraler Teil der Kultur von Organisationen. «Die Beherrschung des permanenten Wechsels zwischen Formalität und Informalität ist letztlich das, was gute Organisationsmitglieder auszeichnet.»  

Aufbau des Buches

In seinem Buch geht Kühl zunächst darauf ein, was überhaupt «brauchbare Illegalität» bedeutet und er grenzt «brauchbare Illegalität» gegen solche Regelverstösse ab, die nur den Organisationsmitgliedern oder ihren Bezugsgruppen nutzen. Er geht den Gründen für «brauchbare Illegalität» nach, zeigt ihre Entstehung auf und thematisiert Legitimationsprobleme, die aus aufgedeckten Regelverstössen dieser Art entstehen.

In den weiterführenden Kapiteln geht es darum, dass erst durch die Entmoralisierung der Regelabweichung kommunikative Schutzräume entstehen können, welche kulturbildende Prozesse auslösen. Abschliessend werden «Daumenregeln» entwickelt, wann Regelabweichungen funktional sein können und praktiziert werden, um kybernetisch gesprochen durch diese «brauchbare Illegalität» für die Ultrastabilität von Organisationen in Zeiten der Unübersichtlichkeit zu sorgen.

Wie schon andere Bücher von Kühl regt auch dieses durch die «andere Perspektive» zum Denken an und eignet sich dazu, die eigene Organisationskultur zu reflektieren und seine eigenen normativen Werte als Führungskraft darin zu spiegeln. Die Lektüre ist deshalb für Organisationsberater:innen und Führungskräfte gleichermassen anregend.

Für Schulleitende und Führungskräfte in Bildungsorganisationen lassen sich aus der Lektüre aus meiner Sicht mindestens die folgenden Fragestellungen ableiten:

  • Welche Regeln, Standards und Abläufe habe ich gemeinsam mit den Mitarbeitenden das letzte Mal auf Sinnhaftigkeit, Verständlichkeit, Praktikabilität und Nutzen überprüft?
  • Wie gehe ich / gehen wir mit Unschärfen und Grauzonen um, die nicht geregelt sind?
  • Gibt es in unserer Organisation das Bewusstsein «brauchbarer Illegalität»? Ist sie erstrebenswert? Wenn ja, wie nehmen wir diese auf?
  • Falls wir uns als Organisation überhaupt nicht mit «brauchbarer Illegalität» beschäftigen möchten, was sind die «Kosten» dafür? 
  • Über welche Regeln wird in «informellen Gefässen» geschimpft, welche Message steht dahinter, welche Erkenntnisse könnten wir daraus ziehen?
  • Wie gehe ich als Führungskraft mit der Spannung zwischen Unterbindung und Duldung von Regelabweichung selbst und in Bezug auf meine Mitarbeitenden um?
  • Inwieweit gibt es Unterschiede zwischen einzelnen Subgruppen in der Organisation in Bezug auf «brauchbare Illegalität» und was heisst dies für das Ganze?
  • Gibt es für mich Grenzen «brauchbarer Illegalität» und wie würde ich dies definieren?

Fazit

Für mich war das Buch anregend, da es direkt und indirekt wichtige Fragen der Führung in Organisationen aufwirft, anregt und provoziert.

INFOBOX

Wer sich lieber persönlich durch Stefan Kühl anregen möchte, kann dies anlässlich des 15. Symposiums Personalmanagement im Bildungsbereich am 20. Mai 2022, einem Vernetzungsanlass von Schulleitungen und weiteren Führungspersonen mit dem Thema «Multiprofessionell zusammenarbeiten – Impulse für ein gelingendes Wirken an Schulen».
Zur Person

Stefan Kühl ist Professor für Soziologie an der Universität Bielefeld und Organisationsberater der Firma Metaplan. Er ist auch Autor verschiedener Bücher zur Gestaltung von Organisationen mit interessanten Titeln wie «Wenn die Affen den Zoo regieren: Die Tücken der flachen Hierarchien», «Das Regenmacher-Phänomen: Widersprüche im Konzept der lernenden Organisation», «Sisyphos im Management: Die vergebliche Suche nach der optimalen Organisationsstruktur».

Zum Autor

Johannes Breitschaft

Johannes Breitschaft ist Dozent und Berater im Zentrum Management und Leadership an der PH Zürich. Seine Engagements umfassen Themen rund um die Schulleitungsausbildung, die Intensivweiterbildung für Lehrpersonen und das Symposium Personalmanagement im Bildungsbereich. Als Berater deckt er vorwiegend Themen der Führungsrolle, dem Erhalt von Gesundheit und Leistungsfähigkeit sowie dem Umgang mit Konflikten ab.

Redaktion: Melina Maerten
Titelbild: Buchcover, Campus Verlag

2 Gedanken zu „Wie wichtig Organisationsregeln- und brüche sind“

  1. Danke für die tolle Rezension Johannes Breitschaft.
    Ich selbst breche ganz oft und gerne Regeln (wenn sie nicht mit mir und meiner Ratio im Einklang sind).
    Das kann Organisationen wichtige Impulse geben. Toll!

    Viele liebe Grüsse
    Susanne

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