Thomas Marti

Die doppelte pädagogische Verantwortung

Die Zukunft kann niemand voraussehen. Die Corona-Krise hat dies verdeutlicht. Gerade deshalb ist es wichtig, dass wir Erwachsenen jetzt Verantwortung übernehmen und den jungen Menschen etwas zeigen. Auf dem Weg in eine neue konstruktive Zone gilt deshalb, die ergänzende Hälfte der MINT-Fächer (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik) zu etablieren. Thomas Marti mit dem 2. Beitrag.

Teil 2: Mit der Karte unterwegs

Rückblickend auf den ersten Teil meines Beitrages und der Beschreibung der drei Hauptpunkte der «Krise der Erziehung» von Hannah Arendt, sind wir bei der aktuellen Diskussion über die Schule und deren Zukunft angelangt: bei den Bildern von spielenden Kindern in der Schule und einer gewissen Verzerrung des Diskurses über Bildung. Verantwortung zu übernehmen heisst nach Arendt, das Kind vor der Welt zu schützen und gleichzeitig die Welt vor dem Kind zu schützen.

Diese doppelte pädagogische Verantwortung beschreibt Arendt folgendermassen: «Das Kind bedarf einer besonderen Hütung und Pflege, damit ihm nichts von der Welt her geschieht, was es zerstören könnte. Aber auch die Welt bedarf eines Schutzes, damit sie von dem Ansturm des Neuen, das auf sie mit jeder neuen Generation einstürmt, nicht überrannt und zerstört werde.»

Jungen Menschen etwas zeigen

Verantwortung zu übernehmen heisst nicht, die Kinder und Jugendlichen in den Fokus zu stellen und sie als die Zukunftsträger schlechthin darzustellen. Wir alle leben gleichzeitig im Jetzt. Verantwortung als der Entscheid etwas zu tun oder nicht zu tun, sollte für uns Erwachsenen heissen, im Hier und Jetzt den jungen Menschen etwas zu zeigen und nicht nur, wie sie selbst lernen können, was sie lernen müssen. Es ist und bleibt ein Fakt, dass die allermeisten Erfahrungen, die Menschen machen, nicht selbst gewählt sind.

Moralischer Fortschritt und die ergänzende Hälfte von MINT

Es gilt zu erkennen, dass der naturwissenschaftlich-technologische Fortschritt gleichberechtigt einhergehen muss mit einem moralischen Fortschritt. Günther Anders hat dies bereits im letzten Jahrhundert klargesehen und treffend formuliert, indem er für die Weltsituation diagnostizierte: «Die drei Hauptthesen: dass wir der Perfektion unserer Produkte nicht gewachsen sind; dass wir mehr herstellen als vorstellen und verantworten können; und dass wir glauben, das, was wir können, auch zu dürfen, nein: zu sollen, nein: zu müssen(…).»

Dies verlangt meiner Ansicht nach auf schulischer Ebene eine gleichberechtigte Ergänzung der MINT-Bemühungen mit ethisch-moralischen Perspektiven, aus denen moralischer Fortschritt entsteht. Aber dieser moralische Fortschritt entsteht nicht automatisch und auch nicht als Folge von technologischem Fortschritt und Innovation.

Die neue konstruktive Zone

Eine neue konstruktive Zone ist nur dort, wo sich MINT, Ethik und Moral, Wirtschaft und Zivilgesellschaft treffen und einen Lösungsraum schaffen, der deutlich grösser ist als der Problemraum.

Der Philosoph Markus Gabriel formuliert diesen Sachverhalt treffend: «Es ist dringend notwendig, dass wir die Kräfte und Erkenntnisse der verschiedenen Disziplinen der Natur-, Techno-, Geistes- und Sozialwissenschaften bündeln und auf die alles entscheidende Frage fokussieren, wer wir als Menschen sind und wer wir sein wollen.» Erneut taucht hier die doppelte pädagogische Verantwortung von Bildung und mithin auch der Lehrerausbildung auf!

Wir sollten uns den ideologisch verklärten Bildungsdiskursen lösen, die in tendenziell leeren Begriffen geführt werden. Weder ist der Mensch von hierarchischen und heteronomen Formen des Lehrens und Lernens abhängig, noch ist der Mensch die zarte Pflanze, die sich bei genügend Wasser von selbst entwickelt.

Die neue konstruktive Zone ist eine Zone der Verantwortung von uns Erwachsenen. Wir dürfen uns nicht länger aus der Verantwortung ziehen und jungen Menschen nur noch zeigen, wie sie Lernen sollen, wir müssen uns einig werden in dem, was wir ihnen zeigen wollen.

Zu lange haben wir in Zonen der Knappheit und des Überschusses gelebt, zu lange in den Steilhängen gebaut, gedacht und gehandelt. Zu lange haben wir uns auf das Prinzip der egoistischen Selbstbehauptung fokussiert und den entsprechenden Wohlstand konsumiert und dabei das Kooperationspotenzial des Menschen vernachlässigt.

Die neue konstruktive Zone hat keine fest definierten Übergänge, aber es gilt sie zu bestimmen, neu zu etablieren und zu kultivieren. Es ist von Bedeutung, die neue konstruktive Zone vom beratungsindustriellen Schlaraffenlandnarrativ zu befreien: Sie ist regenerativ und distributiv.

Zum Autor

Thomas Marti

Thomas Marti hat Soziologie, Philosophie und Volkswirtschaft studiert. Zudem ist er ausgebildete Lehrperson für Allgemeinbildenden Unterricht und Schulleiter. Er arbeitet in Teilzeitpensen als Schulleiter an der Schule St.Peter (Gemeinde Arosa) und an der Berufsschule PrA Graubünden. Sein Projekt ZeitBildung bietet Unterstützung auf der Passage zu moralischem Fortschritt in einer Neuen konstruktiven Zone und baut Brücken zwischen dem «Immer und Überall » und dem «Hier und Jetzt. »

Literatur:

Anders, Günther, Die Antiquiertheit des Menschen. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München,1987.

Arendt, Hannah, Die Krise der Erziehung, 1958. Hier verfügbar.

Brinkmann, Svend, Pfeif drauf! Schluss mit dem Selbstoptimierungswahn. München 2018.

Gabriel, Markus, Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten. Universale Werte für das 21. Jahrhundert, Berlin, 2020.

Reichenbach, Roland, Schule, Bildung und Reform – Roland Reichenbach im Gespräch, Sternstunde Philosophie vom 02.07.20215. Hier anschauen.

Redaktion: Melina Maerten

Titelbild: zVg

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