Entwicklungen in Schulen lassen sich nicht an einzelnen Personen oder Funktionen «festmachen». Wir überschätzen uns als Personen und unsere individuellen Handlungen, auch wenn wir aus der Schulentwicklungsforschung wissen, dass bei Veränderungen das Kollektiv und das gemeinsame Lernen in Gruppen eine zentrale Rolle spielt. Andrea Kern, Frank Brückel und Reto Kuster mit ihrem zweiten Beitrag zum Thema Schulentwicklung.
Eine grosse Herausforderung für das Gelingen von Entwicklungsprozessen ist das Zusammenbringen verschiedener Haltungen und subjektiver Überzeugungen bei der Umsetzung eines Projekts. Untersuchungen wie jene von Helmke & Jäger 2002 oder Klieme et al. 2006 lassen erahnen, dass dieser kollektive Kraftakt nicht immer so gelingt, wie man dies aus sicherer Distanz zum Schulalltag mit analytischem Blick gerne hätte.
Darauf deutet auch das nachfolgende Beispiel, welches einer realen Projektsituation entspringt und die Mehrschichtigkeit von Schulentwicklung vor Augen führt.
Die Nachricht kommt von einer verantwortlichen Projektleiterin auf die Nachfrage, wo das Projekt «Lebensraum Schule» steht, das vor circa zwei Jahren mit grossem Engagement und in Übereinstimmung von Schulpflege und Schulleitung resp. Leitungen Betreuung lanciert wurde:
«In der Schulpflege geht es gerade drunter und drüber. Viel Personalwechsel in der Schulverwaltung und Sparaufträge. Dann noch die bevorstehende Reduktion der Schulpflege auf fünf Personen und die Einstellung einer Gesamtleitung Betreuung.
Es gibt zwei Schuleinheiten, die sich schon mit dem Lebensraum Schule auseinandersetzen respektive sich die Betreuungspersonen diesem Thema angenommen haben.
Sonst ist noch recht Funkstille. Ich habe auch gehört, dass die Lehrpersonen das Thema nicht als prioritär erachten. Leider präsentierte die Leitung an der letzten Gesamtschulkonferenz das Projekt sehr schlecht. Ausserdem hat sie gekündigt. Dort hätte man die Lehrpersonen über die Dringlichkeit und den Sinn aufklären und sie dafür begeistern sollen. Einen Rückhalt der Schulpräsidentin spüre ich nicht, obwohl ihre Partei das Thema eingereicht hat. So will sie auch nicht, dass ich bezüglich der Weiterführung weitersehe, was ich sehr bedaure.
Ich finde es sehr schade, dass das Projekt nicht vorwärtsgeht und fühle mich allein gelassen von Schulleitungen, Verwaltung und Schulpflege. Deshalb habe ich in den letzten Wochen den Drive verloren.»
Der Ausschnitt macht in wenigen Worten die Komplexität von Schulentwicklungsvorhaben deutlich:
Zunächst einmal wird klar, dass viele Projekte – in diesem Falle «Schule als Lebensraum» – in einen grösseren Kontext eingebunden sind. Oftmals sind mehrere Ebenen (Schule – Schulpflege – Gemeinderat) und mehrere Akteursgruppen (Lehr- und Betreuungspersonen, Schul- und Betreuungsleitungen, Schulverwaltung, Schulpflege, Politiker:innen) betroffen, die jeweils unterschiedliche Interessen haben. Wenn diese zusammenkommen, haben Projekte eine bessere Chance, tatsächlich realisiert zu werden. Die in der Literatur postulierte «Handlungseinheit Schule als Motor der Schulentwicklung» (Fend 2017) darf daher nicht als Aufforderung verstanden werden, Veränderungen ohne Rücksprache mit den verantwortlichen Behörden voranzutreiben.
Zusammenfassend macht diese Nachricht deutlich: Schulentwicklung ist umfassend und hat viele Facetten. Sie bedarf einer umsichtigen Planung und der frühzeitigen Einbindung vielfältiger Akteur:innen. Auch wenn das Projekt nicht unmittelbar betroffen sein muss, wird es unter Umständen auch beeinflusst von Reorganisationen, Personalwechsel oder der «richtigen und zielführenden» Kommunikation.
Faktoren von Schulentwicklungsprozessen
Eine Arbeitsgruppe der Pädagogischen Hochschule Zürich und des Schulamts Fürstentum Liechtenstein beschäftigt sich seit einiger Zeit mit der Frage, welche Faktoren in solchen Wandlungsprozessen wiederkehrend sind. Denn, so die These, wenn diese Faktoren über das einzelne Projekt hinaus aufgegriffen werden, dann können Schulleitungen, Lehrpersonen und Mitarbeitende dauerhaft entlastet werden. Entstanden ist ein «Schulentwicklungsrad», das als Reflexionshilfe für Schul- oder Projektleitungen dienen kann und Faktoren aufzeigt, die bei jedem Schulentwicklungsprozess zu beachten sind. Dass dabei das Zusammenspiel der Ebenen im Bildungssystem eine zentrale Rolle spielt, darauf verweist die obenstehende Nachricht eindrücklich.
INFOBOX Im Modul «Schule entwickeln» werden Führungskräfte und Projektleitungen unterstützt, sich im komplexen und vielschichtigen Themenfeld der Schulentwicklung zielführend zu bewegen. Der gegenseitige Austausch, der Abgleich von eigenen Erfahrungen mit den Erkenntnissen der Wissenschaft sowie die persönliche Reflexion sollen die Akteur:innen stärken, beim Vorantreiben von Entwicklungen Gelingensfaktoren zu beachten, Stolpersteine zu eruieren und gemeinsam nächste Schritte zu planen. Indem die Komplexität von Schulentwicklungsvorhaben nicht wegignoriert, sondern als dynamisches und unberechenbares Handlungsfeld erkannt wird, sollen Selbstzweifel und Schuldzuweisungen der Beteiligten minimiert werden, falls ein Prozess ins Stocken gerät. Das erarbeitete Rad bietet dabei eine Orientierung und Grundlage für die Entwicklung eines eigenen Schulentwicklungsverständnisses. Lesen Sie auch den ersten Beitrag «Schule in einer sich verändernden Gesellschaft» von Andrea Kern, Reto Kuster und Frank Brückel.
Zur Autorin / zu den Autoren
Andrea Kern arbeiten gemeinsam im Zentrum Medienbildung und Informatik der PH Zürich. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen in der Fachberatung rund ums Thema digitale Medien und ICT in der Schule und in der Konzipierung, Planung und Durchführung von Weiterbildungen und Veranstaltungen im Bereich Medienbildung und Informatik. Gemeinsam haben sie zur Unterstützung in ihrem Arbeitsalltag das Kartenset «Kompass für den digitalen Wandel» entwickelt.
Frank Brückel ist Dozent im Zentrum Schule und Entwicklung an der PH Zürich. Er leitet die Arbeitsgruppe Tagesschule und ist zudem Mitglied im Leitungsteam MAS Weiterbildungsstudien. Er kennt sich speziell in Schulentwicklung, Ganztagesbildung und Professionalisierung bei Lehrpersonen aus.
Reto Kuster ist Dozent im Zentrum Management und Leadership an der PH Zürich. Als Berater und Dozent beschäftigt er sich mit Themen rund um Schulführung und Schulentwicklung. Er leitet unter anderem den Lehrgang Pädagogische Schulführung und ist Mitglied der Gruppe QuinTaS mit Schwerpunkt Qualität und Aufbau von Tagesschulen. Weiter ist er in der Beratung von Organisationen und Führungspersonen im Bildungsbereich tätig.
Redaktion: Melina Maerten
Titelbild: zVg
Genau so erlebe ich es auch. Wenn alle Ebenen und Akteure an einem Strang ziehen, dann gibt enormen Drive, wenn es schon nur an einer Stelle harzt oder Keyplayer weggehen, schlägt die Energie schnell um und es wird sehr anstrengend. Super, wenn da an neuen Konzepten für Schulentwicklung gearbeitet wird.
Liebe Daniela
Vielen Dank für deinen Kommentar. Wir sind sehr froh, wenn unser Blog gelesen wird. Falls Du irgendwelche kurze Erlebnisse in dieser Art hast, sind wir dankbar darum. Mehr und mehr versuchen wir Theorie und Praxis zu verbinden und daraus zu lernen.
Herzliche Grüsse
Frank Brückel