Reformen gehen auch durch die Schule. Die steigende Zahl von Tagesschulen, die breit einflussnehmende Digitalisierung, oder Projekte wie die Einführung des neuen Lehrplans zeigen, wie umfassend sich unsere Gesellschaft verändert. Die Auswirkungen auf den Schulalltag sind umfassend. Für die Schule ist es keine Wahl, sie muss sich auf diese Prozesse einstellen, sind sich Andrea Kern, Frank Brückel und Reto Kuster einig.
Die neueste Ausgabe vom Profil, einem Magazin für das Lehren und Lernen, beschäftigt sich mit Grenzen. Unter dem Titel «An Grenzen gekommen – Lehrpersonen erzählen» kommen vier Lehrpersonen zu Wort, die eindrücklich von ihren Herausforderungen im Alltag berichten. In den Schilderungen geht es beispielsweise um den Umgang mit heterogenen Schulklassen;
«Die beiden Klassen waren ausser Rand und Band. Bereits nach einer Woche war ich komplett an meine Grenzen gestossen. Auch organisatorisch: Von der Klassenlehrerin hatte ich eine Liste erhalten, worauf ersichtlich war, wann welche Kinder zur Schulsozialpädagogin, zur Audiopädagogin, zur Logopädin, in die Psychomotorik oder in den DAZ-Unterricht zu gehen hatten. Fast jedes Kind stand irgendwo auf der Liste» (vgl. Profil 2021, S. 7).
Unzufriedenheit über die Schulführung;
«Ich hatte mich beschwert, dass wir Lehrpersonen von der Schulleitung zu wenig Wertschätzung erhielten, insbesondere da wir nebenher ständig aufwendige und freiwillige Schulprojekte vom Zaun rissen. Die Beschwerde zu wagen, war ein Fehler. Die Retourkutsche kam. Sie kam immer. Manchmal prompt, manchmal erst ein halbes Jahr später» (vgl. Profil 2021, S. 8).
oder mangelnde Zusammenarbeit:
«Die Zusammenarbeit mit den Lehrpersonen im besagten IF-Jahr fand ich eigentlich schwieriger als diejenige mit den Kindern oder mit den Eltern» (vgl. Profil 2021, S. 8).
«Eine Zusammenarbeit schien unmöglich, obwohl sie dringend notwendig gewesen wäre» (vgl. Profil 2021, S. 9).
Entwicklungen aus gesellschaftlichem Wandel
Versucht man beim Lesen die Perspektive zu ändern, betrachtet man nicht die einzelne Person und ihre jeweilige Herausforderung, dann weisen die Schilderungen auf Entwicklungen hin, die in gesellschaftlichen Wandlungsprozessen begründet liegen. Die Schweiz hat zum Beispiel im Jahr 2014 die UN-Behindertenrechtskonvention ratifiziert. Dort wird in Artikel 24 – ausgehend vom Prinzip der Gleichberechtigung – festgehalten, dass sicherzustellen ist, niemandem vom Besuch einer Grundschule oder einer weiterführenden Schule auszuschliessen.
In der Konsequenz heisst das erstens, dass Schulklassen immer heterogener werden und zweitens, dass sich die Aufgaben von Schulen ändern. Es wird mehr und mehr erwartet, alle Kinder mit ihren individuellen Bedürfnissen und ihrem manchmal herausfordernden Verhalten einzubinden. Dass der Unterricht dabei nicht immer einfach ist, wird im ersten Zitat sehr deutlich. Auch der zunehmende Ausbau von Tagesstrukturen und Tagesschulen weist darauf hin, dass Schule mehr als Unterricht ist.
Schule als multifunktionale Institution
Schon 2008 hat der Bildungswissenschaftler Helmut Fend von Schulen als «multifunktionalen Institutionen» gesprochen und damit ausgedrückt, dass das «Kerngeschäft Unterricht» die Vielzahl an Tätigkeiten, die Schulen zu erfüllen haben, nicht mehr zutreffend umschreibt. Um diesen vielfältigen Aufgaben gerecht zu werden, wurden den Lehrpersonen in den letzten Jahren immer mehr Spezialist:innen zur Seite gestellt, die helfen sollen, den neuen Herausforderungen der Diversität gezielt zu begegnen. Dass eine solche multiprofessionelle Zusammenarbeit nicht automatisch vorausgesetzt werden kann, sondern mit Reibungen und Unsicherheiten verbunden ist, zeigen die Aussagen der zitierten Lehrpersonen eindrücklich.
Noch etwas anderes scheint in den Berichten der Lehrpersonen auf: gesellschaftlicher Wandel und seine Auswirkungen auf die Arbeit an Schulen zeigt sich nicht nur in konkreten Projekten, wie die Einführung von Tagesschulen, digitalem Wandel oder Themen zur Unterrichtsentwicklung. Schulentwicklung ist umfassender und hat viele Facetten. Sie zeigt sich in veränderter Gesetzgebung, der Forderung nach intensiver Zusammenarbeit oder sich ändernden Vorgaben vonseiten der Behörden.
Faktoren der Wandlungsprozesse
Eine Arbeitsgruppe der PH Zürich und des Schulamts Fürstentum Liechtenstein beschäftigt sich seit einiger Zeit mit der Frage, welche Faktoren in solchen Wandlungsprozessen wiederkehrend sind. Denn – so die These – wenn diese Faktoren über das einzelne Projekt hinaus aufgegriffen werden, dann können Schulleitungen, Lehrpersonen und Mitarbeitende dauerhaft entlastet werden. Entstanden ist ein «Schulentwicklungsrad», das als Reflexionshilfe für Schul- oder Projektleitungen dienen kann und Faktoren aufzeigt, die bei jedem Schulentwicklungsprozess zu beachten sind. Dass dabei das Zusammenspiel der Ebenen im Bildungssystem eine zentrale Rolle spielt, darauf verweisen die zu Beginn erwähnten Berichte der Lehrpersonen eindrücklich.
INFOBOX Schulen verändern sich laufend. Führungskräfte und Projektleitungen sind gefordert, diese Entwicklung zu initiieren und aktiv zu führen. Von den Strukturen über digitale Lehr- und Lernformen bis zur Belebung der Kompetenzorientierung gibt es viele Ansätze, Schule weiterzuentwickeln. Die Pädagogische Hochschule Zürich bietet vielfältige Unterstützung. Im Modul «Schule entwickeln» werden die Faktoren des Schulentwicklungsrads erläutert und gezielt auf Themen der Teilnehmenden hin bezogen. Weitere Informationen finden Sie auf unserer Homepage unter dem Thema «Schulentwicklung».
Zur Autorin / zu den Autoren
Andrea Kern arbeiten gemeinsam im Zentrum Medienbildung und Informatik der PH Zürich. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen in der Fachberatung rund ums Thema digitale Medien und ICT in der Schule und in der Konzipierung, Planung und Durchführung von Weiterbildungen und Veranstaltungen im Bereich Medienbildung und Informatik. Gemeinsam haben sie zur Unterstützung in ihrem Arbeitsalltag das Kartenset «Kompass für den digitalen Wandel» entwickelt.
Frank Brückel ist Dozent im Zentrum Schule und Entwicklung an der PH Zürich. Er leitet die Arbeitsgruppe Tagesschule und ist zudem Mitglied im Leitungsteam MAS Weiterbildungsstudien. Er kennt sich speziell in Schulentwicklung, Ganztagesbildung und Professionalisierung bei Lehrpersonen aus.
Reto Kuster ist Dozent im Zentrum Management und Leadership an der PH Zürich. Als Berater und Dozent beschäftigt er sich mit Themen rund um Schulführung und Schulentwicklung. Er leitet unter anderem den Lehrgang Pädagogische Schulführung und ist Mitglied der Gruppe QuinTaS mit Schwerpunkt Qualität und Aufbau von Tagesschulen. Weiter ist er in der Beratung von Organisationen und Führungspersonen im Bildungsbereich tätig.
Redaktion: Melina Maerten
Titelbild: zVg
Danke für die mehrfache Erwähnung unseres Kundenmagazin „Profil“. https://www.profil-online.ch/
Beste Grüsse
Alex Hofstetter, Schulverlag plus