Hand aufs Herz – blicken wir auf unsere Schulzeit zurück und vergegenwärtigen wir uns den damals täglich zurückgelegten Schulweg. «Ich erinnere mich, den kurzen Fussmarsch durch das Dorf in den Kindergarten meistens Hand in Hand mit meinen Kameradinnen und Kameraden zurückgelegt und dabei – über alle Jahreszeiten und Witterungsbedingungen hinweg – unvergesslich positive und prägende soziale Erfahrungen gemacht zu haben.» Schwärmt Thomas Bucher, der sich im folgendem Rechtsbeitrag auch zu den Gefahren äussert, der ein Schulweg mit sich bringen kann.
Für Entscheide über die Zuteilung der Schülerinnen und Schüler an die Schulen ist nach § 42 Abs. 3 Ziff. 6 VSG die Schulpflege zuständig.
Nach § 66 Abs. 2 VSV liegt die Verantwortung für die Schülerinnen und Schüler auf dem Schulweg grundsätzlich bei den Eltern. Der Grundsatz gilt nach § 8 Abs. 3 VSV aber dann nicht uneingeschränkt, wenn Schülerinnen und Schüler den Schulweg aufgrund der Länge oder Gefährlichkeit nicht selbstständig zurücklegen können und die Schulpflege auf Kosten der Gemeinde geeignete Massnahmen anzuordnen hat.
Damit ist die Frage aufgeworfen, welche Schlussfolgerungen aus der Kasuistik betreffend die Unzumutbarkeit des Schulwegs wegen Länge oder Gefährlichkeit zu ziehen sind und mit welchen Massnahmen die Rechtmässigkeit des Schulwegs sicherzustellen ist.
Kinder lernen von den Eltern
Vorab ist zu erwähnen, dass die Eltern angehalten sind, ihre Kinder an die Herausforderungen des Strassenverkehrs heranzuführen. Sie sollten den zurückzulegenden Schulweg vor dem Schuleintritt mit dem Kind wiederholt gemeinsam begehen und den Umgang mit Gefahren im Strassenverkehr üben. Eltern und Erziehungsberechtigte erweisen ihren Schützlingen keinen erstrebenswerten Dienst, wenn sie mit dem «Elterntaxi» Risikominimierung betreiben und damit das Erlernen verkehrssicheren Verhaltens ihrer Kinder einschränken.
Jedem in der Schweiz lebenden Kind kommt nach Art. 19 in Verbindung mit Art. 62 Abs. 1 und Abs. 2 der Schweizerischen Bundesverfassung der grundrechtlich geschützte Anspruch auf ausreichenden und unentgeltlichen Grundschulunterricht zu, wobei die Träger der öffentlichen Volksschule in der Pflicht stehen, diesen zu ermöglichen. Die Garantie ausreichenden Grundschulunterrichts beinhaltet, dass der Schulbesuch faktisch möglich, also nicht übermässig erschwert sein darf. Daraus lässt sich der Anspruch auf einen zumutbaren Schulweg ableiten.
Massgebend für die Zumutbarkeit des Schulwegs ist dessen Länge und Gefährlichkeit unter Berücksichtigung des Entwicklungsstands und der Gesundheit des betroffenen Kindes. Die Beurteilung über die Zumutbarkeit des Schulwegs ist mit anderen Worten nicht abstrakt, sondern konkret, also nach den konkreten Umständen im Einzelfall, vorzunehmen. Nicht zu übersehen ist die Tatsache, dass Zuteilungsentscheide nicht ausschliesslich des Kriteriums des geringsten Risikos folgen können, denn Kindergruppen sind ausgewogen zusammenzusetzen. Dabei ist insbesondere an die soziale und sprachliche Herkunft der Kinder sowie an die Verteilung der Geschlechter und Altersgruppen nach den Vorgaben von § 25 Abs. 1 VSV zu denken. Kindergartenklassen sind nach § 4 Abs. 1 VSV zudem altersdurchmischt zu bilden.
Den Eltern bzw. Erziehungsberechtigten steht ein Antrags-, Rekursrecht und auf dem weiteren Rechtsweg ein Beschwerderecht betreffend die Kindergarten- oder Schulhauseinteilung mit dem Argument der Unzumutbarkeit für das Kind zu. Dass sie ihre Rechte zuweilen vehement durchsetzen wollen, ist verständlich, geht es doch im wahrsten Sinne des Wortes um die vitalsten Interessen der Eltern an der Gesundheit und Sicherheit ihrer Kinder.
Beanstanden die Eltern, dass die Zuteilung wegen Länge oder Gefährlichkeit für ihr Kind unter Berücksichtigung seiner individuellen Voraussetzungen unzumutbar sei, steht die Schulpflege zwecks korrekter Gewährung des rechtlichen Gehörs in Bezug auf die Begründung ihres Entscheids in der Pflicht, sich mit allen Elementen des Sachverhalts, den anwendbaren Normen und mit den Parteivorbringen auseinanderzusetzen.
Sowohl beim Zuteilungsentscheid als auch bei der Beurteilung über die Zumutbarkeit des Schulwegs kommt der Schulpflege ein gewisser Ermessensspielraum zu. Erweist sich der Schulweg nach sorgfältiger Prüfung als unzumutbar, räumt § 8 Abs. 3 VSV der Schulpflege ein sogenanntes Auswahlermessen ein, womit ihr die Entscheidungsfreiheit über zweckdienliche Massnahmen der Schulwegsicherung zukommt. Sie ist an die pflichtgemässe Ausübung des Ermessens gebunden. Verboten sind der Ermessensmissbrauch und die Ermessensüberschreitung. Der Zuteilungsentscheid muss immer auf sachlichen Gründen beruhen.
Auch wenn sich aus der Kasuistik zahlreiche Hinweise entnehmen lassen, ist die Schulpflege nicht von einer Einzelfallprüfung entbunden, da sich die zumutbare Länge eines Kindergarten- bzw. Schulwegs und seine Gefährlichkeit nicht abstrakt festlegen lässt. Neben der Länge des Schulwegs fallen weiter die zu überwindende Höhendifferenz, die Konstitution des Kindes, die Beschaffenheit des Weges, die Verkehrslage sowie die Siedlungsstruktur und einzelfallbezogen weitere Umstände ins Gewicht.
Länge und Dauer des Schulwegs
- Schülerinnen und Schülern einer zweiten und dritten Klasse, die sich mit einer Geschwindigkeit von ca. 3.5 km/h zu Fuss fortbewegen, ist es zuzumuten, eine Wegstrecke von 760 m und eine Busfahrt zurückzulegen, sodass die über Mittag verbleibende Zeit zu Hause etwas mehr als 40 Minuten beträgt, bevor sie sich wieder auf den Schulweg begeben müssen.
- Ein Schulweg von insgesamt etwas über einem Kilometer wurde bei einem Kindergartenkind als zumutbar erachtet.
Gefährlichkeit des Schulwegs
Ebenso wenig lässt sich eine übermässige Gefährlichkeit abstrakt definieren. Aspekte, die bei einer Einzelfallprüfung von Bedeutung sind, können zahlreichen Urteilen des Verwaltungsgerichts entnommen werden:
- Das Fehlen oder Vorhandensein von Gehsteigen oder Fusswegen
- Verkehrsaufkommen und Anteil des Schwerverkehrs
- Zulässige Höchstgeschwindigkeit und Übersichtlichkeit der zurückzulegenden Wegstrecke
- Art und Anzahl von Strassenquerungen sowie deren Komplexität
- Beleuchtungssituation
- Baustellen und temporäre Hindernisse
- Das Überqueren einer Strasse mit einer zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 60 km/h und sehr hohem Verkehrsaufkommen wurde bei einem Kindergartenkind im ersten Kindergartenjahr als nicht zumutbar erachtet, wodurch schulwegsichernde Massnahmen einzurichten waren.
- Das ungesicherte Überqueren zweier Tramgeleise, auf denen in beiden Richtungen Trams mit unverminderter Geschwindigkeit verkehren, war einem Kind in der ersten Klasse der Primarstufe nicht zuzumuten.
- Unzumutbarkeit des Schulwegs eines Kindergartenkindes, das einem rege benutzten Fuss- und Fahrradweg entlang einer Hauptstrasse mit hohem Verkehrsaufkommen folgen muss und zudem drei gefährliche Stellen zu passieren hat. Letztere erfordern eine gewisse Übersicht und ein erhöhtes Gefahrenbewusstsein, das Kinder im Kindergartenalter regelmässig noch nicht aufweisen.
Erweist sich ein Schulweg im Zuge der Einzelfallprüfung ohne das Ergreifen weiterer Massnahmen als unzumutbar, sind schulwegsichernde, verkehrstechnische oder organisatorische Massnahmen zu treffen. Zu denken ist – in nicht abschliessender Aufzählung – an die Zuteilung des Kindes in ein anderes Schulhaus bzw. einen anderen Kindergarten, an einen Transport mit dem Schulbus, an die Übernahme von Kosten für öffentliche Verkehrsmittel, an das Einrichten eines Begleit- oder Lotsendiensts oder an bauliche Massnahmen beim Entstehen neuer bevölkerungsreicher Quartiere (Über- bzw. Unterführungen).
Zum Autor
Thomas Bucher ist Dozent der Abteilung Bildung und Erziehung (Schule und Gesellschaft) an der PH Zürich. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen Schulrecht, allgemeines Verwaltungsrecht, Personalrecht und Schweizerisches Arbeitsrecht.
Redaktion: Melina Maerten
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