In der Rubrik «5 Fragen an…» interviewt Schulleiter Eckart Störmer den Schulleiter Ivo Kamm, der erklärt, wie seine Schule das digitale Netzwerk nutzt und die Schülerinnen und Schüler ihre Ideen umsetzen können. Der Stafetten-Stab wird somit weitergereicht:
- Ivo, beim Besuch der Primarschule Jonschwil haben mich mehrere Dinge beeindruckt, eines davon ist die Art und Weise, wie ihr die Kinder an demokratisches Handeln heranführt. Ihr sprecht sogar von Demokratiepädagogik. Was versteht ihr darunter?
Laut der deutschen Verfassung gehört es zur Hauptaufgabe jeder Schule, mündige Bürgerinnen und Bürger auszubilden. Auch der Lehrplan 21 und die 21st century skills der OECD bestätigen dieses Bildungsziel. Wir sind überzeugt davon, dass wir Demokratie nicht mittels eines Schulfachs «politische Bildung» ab der Sek. 1 Stufe lehren können. Demokratie erlernen die Kinder und Jugendlichen, indem sie sie erleben.
Deshalb beteiligen wir die Kinder und Jugendlichen an der Gestaltung des Schulalltags, des Zusammenlebens und der Schulgemeinschaft. Wir führen regelmässig Klassenrat und Vollversammlungen durch und diskutieren mit den Schülerinnen und Schüler auf Augenhöhe über Dilemmas aus ihrer Lebenswelt, der Schulgemeinschaft oder unserer Gesellschaft. Themen für die Vollversammlungen entstehen manchmal aus Schülerinnen- und Schülerfragen, Anliegen von Lehrpersonen und Fragen aus der Gemeinde.
In einer der vergangenen Vollversammlungen diskutierten die Kinder darüber, wie das alte Schulgebäude in hundert Jahren aussehen würde, wenn es die Natur zurückerobern würde. Daraus entstand die Idee, das Schulhaus vor dem Abriss mit Pflanzen und Tieren zu bemalen. Die ganze Bevölkerung wirkte mit. Es ist unser Ziel, dass jede Schülerin und jeder Schüler einmal in der Primarschulzeit als Delegierte Verantwortung für die Schulgemeinschaft übernehmen darf und dadurch Demokratie als etwas erlebt werden kann, was allen Menschen zugänglich ist und wo alle unsere Meinungen gefragt sind.
In unseren Ideenbüros beraten Kinder einander selbstständig und finden gemeinsam Lösungen für ihre Probleme und Anliegen. Es wurde schon eine Theater AG gegründet, ein Friedensstifterprogramm entwickelt, die Schülerzeitung lanciert und ein Regenschirmverleih für den Pausenhof organisiert. Viele Streitigkeiten können durch die Beratungstätigkeit der Ideenbürokinder gelöst werden.
Aus unserer Sicht fördert die Schülerinnen- und Schüler-Partizipation die Persönlichkeitsentwicklung und die kommunikativen Kompetenzen nachhaltig und trägt zur Qualität und zu tragfähigen Lösungen an unserer Schule bei.
Ich erinnere mich gerne an den Spatenstich unseres neuen Schulhauses zurück. Die Schülerinnen und Schüler haben sich an einer Vollversammlung vom Architekten den Sinn und Zweck des Spatenstichs erklären lassen und dann in altersdurchmischten Gruppen Ideen für einen solchen gesucht. Nachdem die Vorschläge vorgestellt und diskutiert waren, bewerteten sie die Kinder. Die beiden meistgenannten Vorschläge wurden durch die Ideenbürokinder zu einem konsensfähigen Vorschlag zusammengefasst, sodass wir einen einzigartigen und unvergesslichen Spatenstich erleben durften.
- Das Zweite, das für mich bemerkenswert bei euch ist, ist die Art, wie ihr die Familien eurer Schüler unterstützt. Wie sieht diese Unterstützung aus?
Mit dem Beratungsangebot unserer Jugendberatung wollen wir die Kinder und Jugendlichen sowie deren Bezugspersonen bei Fragen oder in kritischen Lebenssituationen unterstützen. Die Mitarbeiterinnen der Jugendberatung sind von der Gemeinde angestellt. Sie werden durch die betroffenen Kinder und Eltern gegenüber der Schule als neutrale Stelle wahrgenommen. Die Mitarbeitenden der Jugendberatung können deshalb immer wieder vermittelnd tätig sein. Gleichzeitig ermöglichen sie der Schule durch ihre Besuche vor Ort in der Familie ein ganzheitliches Bild von der Situation eines Kindes.
Manchmal wird die Jugendberatung von Kindern oder Eltern direkt kontaktiert, manchmal wird sie durch die Schule empfohlen. In den meisten Fällen entsteht ein vertrauensvolles Verhältnis zwischen den Beteiligten. Die Jugendberatung übernimmt aus meiner Sicht bei uns eine wichtige Brückenfunktion zwischen Elternhaus und Schule. In der Schule wird sie auch als eine Art Schulsozialarbeit eingesetzt. Sowohl die Schülerinnen und Schüler als auch die Lehrpersonen dürfen ihre Beratungsdienste jederzeit in Anspruch nehmen.
- Die letzten Monate waren durch die Massnahmen zur Eindämmung des Corona-Virus geprägt und haben alle herausgefordert. Wie hast du diese Zeit als Schulleiter erlebt?
Es war in der Tat eine herausfordernde Zeit, auf die ich aber mehrheitlich mit Zufriedenheit zurückblicke. Für mich als Schulentwickler war der Corona-Lockdown vielleicht sogar ein Glücksfall. Er gab uns die Möglichkeit, in kurzer Zeit viel Neues auszuprobieren und die Schule neu zu denken. Das hat mir gefallen! Im Verlauf der Zeit wurde ich darin bestätigt, dass unsere Schülerinnen und Schüler insbesondere auf das selbstständige Arbeiten gut vorbereitet sind. Die freie Arbeit, welche bei uns seit drei Jahren einen festen Bestandteil im Stundenplan bildet, hat bestimmt vieles dazu beigetragen. Zufällig haben diese Lektionen den Namen «Virus-Zyt», im Sinne von sich positiv vom Forschervirus anstecken lassen. Daraus machten wir kurzerhand die FernZyt.online.
Zusammen mit unserem vierköpfigen pädagogischen ICT-Team entwickelten wir eine interaktive Online-Fernsehsendung. Nach einer Impulssendung für alle 400 Schulkinder, welche in das gemeinsame Thema «Natur» einführte, sammelten und teilten die Schülerinnen und Schüler auf der Schulwebsite ihre Vorhaben. Von da an strahlten wir wöchentlich eine interaktive Fernsehsendung mit den Ergebnissen aus den Projektarbeiten der Kinder aus. Es kamen die unterschiedlichsten Projekte zusammen. Zum Beispiel züchtete eine Schülerin Stabheuschrecken, ein Schüler baute aus Weidenästen den Eiffelturm nach, andere produzieren Löwenzahnhonig und veranstalteten ein Testessen.
Es entstanden insgesamt mehrere hundert Projekte in den unterschiedlichsten Konstellationen: Schülerinnen und Schüler unterschiedlichen Alters, Familien, Kinder mit ihren Grosseltern oder mit den Eltern, Bekannten sowie Expertinnen und Experten. Die Präsentationssendungen waren auch für Eltern, Verwandte und Bekannte zugänglich und wurden mehrheitlich von den Schülerinnen und Schülern selbst gestaltet. Interessierte finden die Aufzeichnungen der vergangenen Sendungen auf unserer Website.
Es war mir ein grosses Anliegen, während des Fernunterrichts auch die Kooperation und den Austausch zu fördern und damit die Schulgemeinschaft zu beleben, denn eine Chance des Fernunterrichts ist das individualisierende Arbeiten, der Aspekt der Gemeinschaft fällt aber weg. Ich bin überzeugt, dass unser FernZyt.online Format über die Coronakrise hinaus Bestand haben wird. Unser Anspruch war es von Anfang an, etwas zu entwickeln, was uns auch in Zukunft einen Mehrwert bietet. Ich kann mir vorstellen, dass die Sendung künftig zur Präsentation der Projekte aus der «Virus-Zyt» genutzt werden kann. Und überhaupt: Es ist wichtig für die Schule und unserer Gesellschaft, in Zeiten der Isolation solche gemeinschaftsfördernden Instrumente zur Hand zu haben.
- Computer haben in der letzten Zeit eine besondere Rolle in der Schule gespielt. Was sind für dich die wichtigsten Erkenntnisse in Bezug auf den Computereinsatz in der Schule?
Lass mich kurz ausholen und die Rolle der digitalen Medien in den Zusammenhang mit Lernen stellen. Lernen ist eine „tätige“ Informationsaufnahme und -verarbeitung im Austausch mit andern. (LP 21, Kt. Einführung, Birri T., Brühwiler C., Sonderegger J. 2017) Wir gehen davon aus, dass Bildung einerseits aus fachlichen Kompetenzen (zum Beispiel die Informationsverarbeitung mit einem Tablet), andererseits aber auch aus überfachlichen, methodischen und personalen Kompetenzen besteht.
Die Partizipation an medialen Ausdrucksformen ist Teil des heutigen gesellschaftlichen Lebens. Die digitalen Medien erlauben neue Ausdrucksmöglichkeiten und eine Vernetzung aus dem Schulzimmer hinaus.
Wir möchten uns fokussieren, neue Lernformen mit digitalen Medien und Formen der Inszenierung von Lernen zu gestalten. Im Einsatz digitaler Medien an unserer Schule geht es also nur sekundär um den Umgang mit den Funktionen und Applikationen von Geräten oder gar um deren Programmierung. Das übergeordnete Ziel ist die sinnreiche, kommunikative Anwendung und die Schaffung eines klaren Mehrwerts. Aus diesem Grund habe ich in den letzten Jahren insbesondere auf die Schulung der Mitarbeitenden gesetzt und ein internes pädagogisches ICT Team aufgebaut, welches sich um die Entwicklung von schulübergreifenden Projekten vom Kindergarten bis zur 6. Klasse kümmert und die Lehrpersonen in der Unterrichtsplanung und der direkten Umsetzung unterstützt.
- In welchen Bereichen siehst du die grössten Herausforderungen für die Schule in der Zukunft und in welchen die grössten Chancen?
Es ist eine Tatsache, dass sich die Schule weiter verändern wird und viele Herausforderungen und Chancen auf sie zukommen. Das ist auch gut so, und ich freue mich darauf, als Schulleiter an der Weiterentwicklung der Schule mitzuwirken. Besonders wichtig scheint mir, dass die Schule ein Ort der Verlässlichkeit und ein Zufluchtsort für alle Schülerinnen und Schüler bleibt, wo sie Verantwortung und Demokratie leben und lernen können. Wir brauchen eine Schule, welche die Balance zwischen Individualisierung und Gemeinschaft hält und eine, in der Vielfalt positiv besetzt ist.
Zum Autor
Eckart Störmer, Leiter der Tagesschule Oberglatt: «Ich sehe die (Schul-)Welt nicht als äussere Tatsache, sondern als eine von uns gemeinsam hervorgebrachte. Deshalb sind für mich Schüler/innen, Eltern, Lehrpersonen und Angestellte zuallererst Menschen mit Fähigkeiten, Bedürfnissen, Gefühlen, Träumen und mit einer Geschichte.»
Redaktion: Melina Maerten
Titelbild: zVg
Wie und nach was für Kriterien funktioniert das Notengeben an einem Ort, der die Balance zwischen Individualisierung und Gemeinschaft halten will?
Danke für die Frage. Beurteilen und Bewerten ist an und für sich schon eine grosse Herausforderung. Um Lernprozesse oder Lernentwicklungen detailliert zu erfassen genügen Noten nicht. Wir versuchen als Schule eine gemeinsame Beurteilungspraxis umzusetzen, in der formative gegenüber summativer Beurteilung dominiert, Gruppenleistungen akzeptiert sind und möglichst wenig sozialer Vergleich im Bezug zur Klasse möglich ist. Förder- und Lerndialoge haben einen grossen Stellenwert. Wir setzen dazu die Gesprächskommode ein, welche einen Lerndialog auf Augenhöhe bereits mit jungen Kindern ab der Kindergartenstufe ermöglicht.