Ging es Ihnen auch so, dass in Mails Anfangssätze wie «Ich hoffe, Sie sind gesund», sich häuften oder vermehrt unterzeichnet wurde mit «Bleiben Sie gesund»? Und weckte bei Ihnen der Verzicht von Händeschütteln auch ein Gefühl von Unsicherheit oder Irritation? Gruss- und Abschiedsformeln sind seit jeher zeichenhaft gestaltet. Sie sind Ausdruck von historischen, kulturellen, sozialen Gepflogenheiten und offenbaren etwas über das Denken und Leben sozialer Beziehungen. Gerade in Zeiten erzwungener Isolation wird man sich, ob der Wichtigkeit sozialer Kontakte wieder gewahr.
Unplanbarer Umgang mit Unvorhersehbarem
Spätestens seit dem Lockdown-Beschluss des Bundesrats am 16. März hat das Coronavirus merklich unseren Alltag verändert. Bisher wenig hinterfragte Modalitäten mussten plötzlich auf deren Sinnhaftigkeit überprüft werden. Die Schule als Garant für Struktur, Sicherheit und Stabilität des Alltags geriet von heute auf morgen ins Wanken. Lehrpersonen wurden ungeachtet ihrer digitalen Affinität angehalten, kreative Lösungen für das Unterrichten aus Distanz zu finden. Der Irrglaube, dass sich Analoges einfach auf Digitales umlegen lässt, offenbarte sich schnell.
Vermittlung und Lernen ist tief geprägt von Beziehungen: zu Menschen, zu Dingen, zu Orten. Ebenso wurde die der Pädagogik immanente Ungewissheit und Kontingenz deutlich erfahrbar. Wie für Krisensituationen bezeichnend, fehlte begreiflicherweise vielerorts die Musse zum Innehalten und zum Nachdenken: Was soll und kann unter Bildung verstanden werden? Was lernen die Kinder in Zeiten von Corona?
Schulstart als die grosse Unbekannte
Im Gegensatz zum Lockdown können wir uns nun auf die Öffnung der Schulen vorbereiten. Dies trifft zumindest in organisationaler Hinsicht zu. Was uns jedoch tatsächlich erwartet, lässt sich nur beschränkt antizipieren und planen. Bildung umfasst mehr als Leistung. Die Kinder erfuhren über Wochen hinweg quasi eine «Zwangsentfremdung»: Sie wurden darauf trainiert, gegenüber Menschen auf Distanz zu gehen, sie erlebten Unterricht vor Bildschirmen, der Schulweg entfiel, Lebenswelten von Schule und Familie wurden eins und ebenso verschwanden vertraute Geräusche und Gerüche von der Schule.
Krisen verändern Beziehungen – nicht nur zu Menschen, sondern auch zu Dingen und zur Arbeit. Am 11. Mai öffnen die Schulen wieder ihre Tore. Schulen werden wieder als Raum erfahrbar. Die «Entfremdung» allerdings wird sich noch eine Weile in Form von Entwurzelung, Befremdung gegenüber vormals Vertrautem und als Unsicherheit oder Zerrissenheit bemerkbar machen.
Organisation in Ehren, Wachsamkeit aber mehren
Ein erfolgreicher Übergang zum Normalbetrieb lässt sich kaum anhand einer steigenden Leistungs- und Wissenskurve messen. Damit Lernen überhaupt gelingen kann, gilt es, sistierte Beziehungen in sämtlichen Bereichen wieder sorgsam aufzubauen und zu stärken. Es sind Beziehungen jeglicher Art, welche dem Menschen ein Zugehörigkeitsgefühl beziehungsweise ein Ausgeschlossensein vermitteln. «Blib gsund» soll unser aller Denken und Leben gerade in der kommenden Zeit weiterhin begleiten, nicht nur in körperlicher, sondern ebenso in psychischer Hinsicht. Dazu braucht es ein wachsames Auge und den Mut innezuhalten und situativ zu handeln, um der «Entfremdung» entgegenzuwirken.
Zur Autorin
Susanna Abegg ist Dozentin und Beraterin an der PH Zürich. Sie studierte Pädagogik und Geschichte an der Universität Bern und ist BSO anerkannte Beraterin. Sie ist in der Weiterbildung, der Ausbildung und der Beratung und seit über drei Jahren auch als Online-Beraterin tätig.
Redaktion: Melina Maerten
Titelbild: zVg
Danke für ihren Beitrag, der für mich vieles auf den Punkt bringt, was wir im Moment tagtäglich diskutieren!
Beziehung ist und bleibt zentral!
Herzlich
Esther Vogel