Rezension: Standards für eine inklusive Schule

In der neusten Ausgabe der Schweizerischen Zeitschrift für Heilpädagogik ist der Artikel «Standards für eine inklusive Schule» von Cédric Blanc erschienen. Niels Anderegg fasst die für ihn wesentlichsten Inhalte des Textes zusammen und teilt seine Gedanken dazu.

Bis anhin kannte ich nur die von Vera Moser in ihrem Buch «Die Inklusive Schule» vorgeschlagenen Standards. Ich war gespannt, welche Standards von einem Schweizer Autor vorgeschlagen werden. Cédric Blanc ist Vizepräsident von Integras, dem Schweizerischen Fachverband für Sozial- und Sonderpädagogik. Die in seinem Artikel präsentierten Standards wurden in Zusammenarbeit mit verschiedenen Fachpersonen von Integras entwickelt.

In der Einleitung des Artikels verweist Cédric Blanc auf die Entwicklungen, welche die Integration beziehungsweise Inklusion in den letzten 50 Jahren, sowohl national wie auch international, durchlaufen hat. Das Anliegen von Blanc ist eine Schule für alle: «Integrative Schulen gehen vom Grundsatz aus, dass alle Schülerinnen und Schüler einer Gemeinschaft im Rahmen des Möglichen gemeinsam lernen sollen, unabhängig von ihren Behinderungen und Schwierigkeiten» (Blanc 2019, 8). Inklusion versteht er als «ein Prozess, der nie zu Ende ist. Sie ist ein Grundrecht» (ebd., 14).

Standards für eine inklusive Schule gezielt einsetzen

Die von Integras vorgeschlagenen Standards sollen als allgemeine, nicht messbare Ziele verstanden werden. Sie sollen die Richtung der Entwicklung vorgeben. Eine Entwicklung, welche nicht nur die Schulen, sondern das ganze Bildungssystem und damit alle Akteure und Akteurinnen betrifft. Denn: «Ein Verständnis von Inklusion als ein Recht setzt voraus, dass alle Schülerinnen und Schüler, ohne Ausnahme, einbezogen werden. Es ist somit grundlegend, von einem inklusiv ausgerichteten Bildungssystem zu sprechen und nicht von der inklusiven Schule. Das würde implizieren, dass nur ein Element des Systems von dem Ziel betroffen wäre» (ebd., 10).

Die Standards stellen einen universellen Rahmen dar, der von den einzelnen Organisationen aufgegriffen und im jeweiligen Kontext konkretisiert werden müssen. Tragend sind hier die innerhalb einer Organisation gelebten Werte, welche als Sockel der Standards dienen. Zusammen mit den Werten und den Standards können so individuelle Konzepte von und für die einzelnen Organisationen entwickelt sowie umgesetzt werden. Die Standards können dabei als «Barometer des Alltages» (ebd., 14) unterstützend dienen.

Die Standards sind auf die drei Ebenen Bildungssystem (Kanton), Organisation (Schule) und Unterricht aufgeteilt.

Makroebene: Bildungssystem und Kantone

Standard 1:     Die inklusive Schulung ist auf kantonaler Ebene gesetzlich verankert.

Standard 2:     Die Regelschule ist für die Schulung aller Schülerinnen und Schüler verantwortlich und sorgt für die konstruktive Zusammenarbeit aller beteiligten Akteure.

Standard 3:     Die Schule nimmt alle Schülerinnen und Schüler ihrer Umgebung auf.

Standard 4:     Die gesamte Budgetierung aller Ressourcen für die Schulung aller Schülerinnen und Schüler wird an einem Ort verwaltet.

Standard 5:     Das Fachpersonal der Regel- und Sonderschule ist auf Praktiken vorbereitet, die eine inklusive Vision des Schulsystems unterstützt.

Standard 6:     Das Bildungssystem ist ausgerichtet auf tragfähige und nachhaltige Anschlüsse, insbesondere im Übergang Schule-Erwachsenenleben.

Mesoebene: Schule – Organisation

Standard 7:     Die Schule lebt eine inklusive Grundhaltung.

Standard 8:     Die Schule versteht sich als lernendes System.

Standard 9:     Die Schule sorgt für die Zusammenarbeit gegen innen und gegen aussen.

Standard 10:   Die Schule plant, steuert und überprüft die Qualität inklusiver Massnahmen.

Mikroebene: Unterricht und Förderung

Standard 11:   Das Fachpersonal entwickelt für alle Schülerinnen und Schüler adäquate und individuell passende Begleitungs- und Unterstützungsformen.

Standard 12:   Die Unterrichtsgestaltung orientiert sich am individuellen Förderbedarf der Schülerinnen und Schüler.

Standard 13:   Die Selbst- und Mitbestimmung der Schülerinnen und Schüler sind sichergestellt.

Kritisch anzumerken ist, dass sowohl die Hinleitung zum Verständnis von Inklusion als auch die Standards selbst stark aus der Perspektive der Sonderpädagogik geschrieben sind. Inklusion ist aus meiner Sicht jedoch deutlich mehr. Ein Beispiel: Mit den Begriffen Schülerinnen und Schüler werden Menschen, welche nicht dem binären Modell von Männlichkeit und Weiblichkeit entsprechen, ausgeschlossen. Ähnlich wie die Behindertenbewegung sich die Integration erkämpfen mussten, geht es momentan der LGBTQ-Bewegung. Mir erscheint es wichtig, diese – auch in der Sprache – nicht auszuschliessen. Hier würde ich mir bei Standards zur Inklusion mehr Sprachsensibilität wünschen.

Aber auch inhaltlich haften den Standards teilweise der Geruch der Heilpädagogik an: Inklusion bedeutet für mich auch eine Aufhebung der Kategorien und schliesst alle Menschen mit ein. Wenn aber alle Schülerinnen und Schüler individuell gefördert werden sollten, dann braucht es keine Begleitungs- und Unterstützungsmassnahmen wie sie im Standard 11 gefordert sind, sondern einen guten Unterricht, der alle unterstützt und beim Lernen begleitet. Hier bewegen wir uns – wie es Mai-Anh Boger nennt – im Trilemma der Inklusion, das sich theoretisch nie auflösen lässt. Nur in der Praxis lässt sich dieses gestalten. Und dazu braucht es wohl doch (noch) individuelle Begleit- und Unterstützungsmassnahmen oder – wie in Standard 5 festgehalten – neben den Regelschulen auch Sonderschulen. Aber ob diese auch in den Standards so festgehalten werden sollten? Ich würde es wohl anders formulieren.

Standards geben Unterstützung. Inklusion ist eine Vision, welche im Alltag pragmatisch gelebt und weiterentwickelt werden müssen. Dazu braucht es einen gemeinsamen Rahmen, der immer wieder diskutiert und kontextspezifisch angepasst werden muss. Hier leistet der Artikel von Cédric Blanc einen wichtigen Beitrag, der Führungspersonen von Bildungsorganisationen in ihrer Arbeit für eine inklusive Schule und Gesellschaft unterstützt.  Denn: Die Schulleitung spielt – neben anderen Akteurinnen und Akteuren – in der Inklusion eine wesentliche Rolle!

PS: Wer in Angriff nehmen möchte an der eigenen Schule die Standards umzusetzen: An der Tagung Schule inklusiv leiten, welche wir zusammen mit der HfH organisieren, kann man Anregungen dazu erhalten und sich mit Kolleginnen und Kollegen austauschen.

Niels Anderegg, Leiter Zentrum Management und Leadership, PH Zürich

Literatur

Blanc, Cedric. 2019. „Standards für eine inklusive Schule.“  Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik 10:7-15.

Bild: pixabay.com

 

Ein Gedanke zu „Rezension: Standards für eine inklusive Schule“

  1. ‘Vielen Dank für die sehr anregende Rezension. Mir gefällt sehr gut an den Standards des Integras, dass sie von einem ‘inklusiv ausgerichteten Bildungssystem’ ausgehen und nicht von der inklusiven Schule.
    Ich würde sogar noch einen Schritt weiter gehen. Wenn Du nämlich sagst, dass es, wenn ‘alle Schülerinnen und Schüler individuell gefördert werden sollten, dann … keine Begleitungs- und Unterstützungsmassnahmen’ brauche, dann reden wir von einer Schule deren Inklusionsbegriff sich nicht ‘nur’ auf das Bildungssystem bezieht, sondern auch auf das Sozialsystem. Schulische Inklusion setzt gesellschaftliche und familiäre Inklusion zu einem gewissen Grad voraus. Individuelle Förderung müsste dann auch Förderung der Familie beinhalten.

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