#3 «Über Scheitern und Skills» heisst der dritte und letzte Teil von Philipp Zimmer, Schulleiter Volksschulgemeinde Wigoltingen. Die 3. These ergänzt die beiden ersten Beiträge, die in den letzten Wochen erschienen sind.
Zig Male nach einem Flug in den Orbit versuchte das amerikanische Raumfahrtunternehmen SpaceX ihre Trägerraketen Falcon 9 und Falcon Heavy senkrecht und voll automatisiert zu landen. Jeder Start kostete das Unternehmen rund 35 Millionen US-Dollar und oftmals blieben nur Rauch und Trümmer von den Falcons übrig. Irgendwann kursierten ironische Videos mit dem Titel «How Not to Land an Orbital Rocket Booster» im Internet (Am Ende des Artikels gelangen Sie zum Video).
Wie viel Motivation, Resilienz, Ressourcen und Kosten waren Ingenieure und Investoren wohl bereit, auf sich zu nehmen, um letztlich erfolgreich zu sein? Die Teams um Elon Musk mussten in kurzer Zeit Dinge lernen und verstehen, über die sich zuvor kaum ein Mensch Gedanken gemacht hatte. Und plötzlich, drei Tage vor Weihnachten 2015, landete dann der Falcon 9 senkrecht, auf den Zentimeter präzise, ohne zu wanken auf seiner ursprünglichen Startposition. Alle Gesetze der Physik erscheinen einfach irreal, während die Herrschaften der nationalen Raumfahrtbehörden dumm aus der Wäsche guckten. Plötzlich passte alles, was uns bislang eckig erschien, ins Runde.
Das Eckige muss ins Runde
Realitätssprung: Unser Bildungssystem basiert noch heute auf Strukturen der Industrialisierung des 18. und 19. Jahrhunderts. Gesellschaftlicher Leistungs- und Erfolgsanspruch sind dabei grösstmöglicher Druckpunkt auf die meist extrinsische Motivation des Lernens. Mehr denn je steht Kindern und Jugendlichen mit Eintritt ins Schulalter eine leistungserwartende Haltung gegenüber, welche nur wenig Raum und Zeit für Trial-and-Error-Kulturen bietet.
Die Einführung des neuen Lehrplans 21 lässt den Kompetenzbegriff durch kantonale Weiterbildungen und Lehrmittel sickern und stiftet Verwirrung in Fach- und Beurteilungsdiskussionen. Eine Beurteilung ohne Noten ist für die meisten kaum vorstellbar, während andere jegliche Formen der Beurteilung für überflüssig erachten. Die Debatten rund um den digitalen Wandel rütteln die Schulen aus dem Tiefschlaf und sorgen für fragende und ängstlich erschrockene Gesichter.
Genau wie die Herrschaften der NASA schauen wir Pädagogen jetzt dumm aus der Wäsche. Plötzlich wird klar, dass das Runde irgendwie ins Eckige passen und sich unsere Vorstellung vom Lernen radikal ändern muss. Wie soll das gehen?
Der Erwerb von Kompetenzen ist ein wichtiger Lernprozess, in dem Aktivitäten, Emotionen, Kognitionen und Situationen auf vielfältige Weise miteinander verknüpft sind. Wenn dieser Lernprozess im limbischen System entsteht, also einen emotionalen Zugang hat, aktiv und ergebnisorientiert gestaltet ist und vielfältige thematische Perspektiven ermöglicht, ist er effektiv. Lernprozesse sind also dann besonders nachhaltig, wenn sie aus Neugier entstehen, explorativ stattfinden, aber bewusst Räume für Fehlerkulturen und Misserfolg zulassen. Dabei muss ein curricularer Bezug nicht zwingend verloren gehen. In unseren Schulen erlebe ich Fehler und Scheitern oftmals sehr negativ behaftet: «Für Fehler haben wir keine Zeit, wir müssen doch im Stoff vorankommen». «Wenn unser Kind Fehler macht, dann hat es ja nichts gelernt.»
In einer Zeit, in der sich Veränderungen exponentiell wandeln, braucht es Mut und Agilität. Deshalb müssen wir unseren Kindern in ihrem Denken und Handeln Fehler einräumen und ihnen eine offene Fehlerkultur zugestehen. Denn die Angst vor Misserfolg ist der grösste Feind des Mutes.
Erfolg kommt von Misserfolg
LEIDENschaft beinhaltet auch LEIDEN. Krisen gehören zur Persönlichkeitsentwicklung sowie zum Ausbau sozialer Fähigkeiten und haben so einen berechtigten Platz in jedem Lernprozess. Die Schulzeit ist für Kinder und Jugendliche ein effektives und einmaliges Zeitfenster, in dem sich grösste Teile der Persönlichkeit neu formieren.
Dazu gehören also auch tiefgründige Resilienzerfahrungen, welche manchmal grosszügige Zeiträume in Anspruch nehmen dürfen. Lernende sollen in schwierigen Situationen, wenn sich scheinbar keine Lösung finden lässt, Humor und Ironie mit sich selbst entwickeln, durchhalten, auch wenn das Spannungsfeld unangenehm ist. Die Entwicklung von Resilienz und das bewusste Erfahren von Tiefpunkten stärkt enorm die Persönlichkeitsentwicklung.
Resilienz versteht sich als der persönliche Wille, sich aus der Krise zu befreien. Es gilt dann Copingstrategien zu entwickeln, also persönliche Methoden und Strukturen, die Hilfestellungen bieten und zum Erfolg zurückführen. Lernprozesse, die nicht den Erfolg im Sinne guter Leistung, sondern den Weg als emotionalen, vielseitigen und dynamischen Prozess in den Mittelpunkt stellen, erlebe ich als wesentlich nachhaltiger.
Superkompensation des Lernens
Das Stärken von Fehlern, das Wechselspiel von Erfolg und Misserfolg sowie die intensive Auseinandersetzung mit Resilienzerfahrungen zur Steigerung des persönlichen Kompetenzerwerbs sind dabei unverzichtbar. Intrinsische Lernprozesse sind stets durch Passion und Neugier initiiert, lösen Euphorie und Faszination aus. Dann ist der Mut am grössten. Lernende können sich selbst persönliche Ziele setzen, die sie fordern und an Grenzen bringen. Im Schulalltag braucht es dann immer wieder bewusst Räume, um innere Konflikte und Krisen mit sich selbst oder anderen auszuleben.
Sicherlich braucht es dazu keine ständigen Krisensituationen, sondern vielmehr Themen und Inhalte, die sich Lernende selbst gestalten und die vor allem der eigenen Neugier gerecht werden. Wichtig ist der Fokus auf die Persönlichkeit und den individuellen Charakter, um den Reiz an persönlichen Lernzielen und -wegen zu entdecken, die sie im selbst gesteckten Anspruch erreichen können. Das funktioniert aber keineswegs in einem von aussen konstruiertem System, welches unserer Realität in vielen Facetten nicht mehr entspricht.
Die Landung auf dem Curriculum
Unser Konstrukt von Schule hat an vielen Orten einen Paradigmenwechsel nötig, eine Öffnung und Umkehrung seiner starren Strukturen und Muster. Es verlangt von uns Pädagogen, dass wir immer wieder loslassen und Freiräume zulassen. Kinder und Jugendliche sind Baumeister ihrer eigenen Lernwege und wissen meist selbst am besten, wo ihre Ansprüche und Ziele liegen.
Sie selbst legen sich Strukturen, gestalten Räume und Zeiten, benennen eigene Fächer, setzen sich Ziele sowie Erwartungen und formulieren Inhalte als auch Themen. Sie sind mutig und wollen immer besser werden. Meist landen sie dabei von selbst auf den Inhalten unserer Lehrpläne. Erfolg und nachhaltiger Kompetenzerwerb kommt dann meist von selbst. Zum Denken und Konstruieren brauchen sie Aufgaben, Vorbilder, Gemeinschaften und Orte. Passioniertes Lernen ist eine Vorfreude auf das Leben und auf sich selbst.
Sehen Sie sich das Video «How Not to Land an Orbital Rocket Booster» an.
Philipp Zimmer, Schulleiter Volksschulgemeinde Wigoltingen
Hier geht es zum zweiten Beitrag «Über Neugier und Strukturen – MacGyver und der Stundenplan».
Bild: Wikipedia
Danke für den interessanten Beitrag!
Endlich ein Artikel, den ich von ganzem Herzen unterstützen kann! Ich bin seit 30 Jahren Lehrerin, seit 10 Jahren zusätzlich Schulpraxisberaterin/Supervisorin und seit ca. 20 Jahren Lerncoach und begleite/unterstütze nicht nur Kinder, sondern auch Jugendliche und Erwachsene in Ihrem (lebenslangen) Lernen! Die Schule muss sich weiterentwickeln und die starren Strukturen haben es schon lange nötig, aufgebrochen zu werden! Wenn das in allen Köpfen ankommt, dann kann auch das Mindsetting des „halbleeren Glases“ und der „Fehlerkultur“ langsam verschwinden! Kulturveränderungen brauchen leider Zeit! Schulentwicklung ist spannend und experimentierfreudig – wenn alle (inklusive Behörden und Politik) ohne Ängste daran arbeiten, dann werden wir auch eine Veränderung bewirken können! Ich bin zuversichtlich und setze mich mit aller Kraft dafür ein! Herzliche Grüsse, Andrea Schwarz
Vielen Dank für Ihre lieben Worte, Frau Schwarz! Ja, Sie haben recht, es braucht viel Mut und Überzeugungskraft, um in den Schulen etwas zu in Gang zu setzen. Das spüre auch ich jeden Tag, seit ich in diesem Beruf tätig bin. Aber es ist wichtig, immer weiter zu machen, den Dialog mit allen Beteiligten am Schulleben immer wieder proaktiv zu suchen und für unsere nächste Generation einen Bildungsort zu schaffen, der mehr Raum für Individualität, Neugier und intrinsisches Lernen bietet.
Die Kinder, die in diesem Jahr eingeschult wurden, werden pensioniert, wenn sich das Jahrhundert dem Ende neigen wird. Das sollte man vor Augen haben. Bis dahin wird die Welt sich exponentiell verändern, in allen Bereichen. Eigentlich wissen wir bereits jetzt, wo die Reise hingeht….also packen wir‘s an…. 🙂
Vielen Dank für den spannenden Artikel!
Ich bin der Überzeugung, dass trockenes Wissen alleine nicht genügt. Als Trainer frage ich die Anwesenden immer zuerst, weshalb sie hierher gekommen sind. Die Antwort: Um zu lernen. Einerseits haben sie ja recht. Andererseits betone ich immer wieder, dass ich bloss Denkanstösse gebe. Aus meiner Erfahrung kann ich sagen, dass am besten über Experimentieren und Ausprobieren gelernt wird. Werden die Prozesse regelmässig angewendet und wiederholt, wird das Gelernte automatisiert und verinnerlicht. Alleine über Theorie kann man nur schwer sagen, ob eine Methode oder ein Verfahren für uns funktioniert. Fehler gehören dabei zum Lernprozess dazu und sollen nicht tabuisiert werden. Lernen das die Kinder bereits in der Schule, fällt ihnen der Umgang damit später viel leichter.
Freundliche Grüsse,
Dr. Oliver Mattmann