Inklusion hat – so könnte man auf den ersten Blick meinen – vor allem mit Lehrpersonen und Heilpädagoginnen und Heilpädagogen zu tun. Schliesslich sind sie diejenigen, welche mit der Diversität umgehen und Inklusion jeden Tag von Neuem gestalten müssen. Gleichzeitig – und das ist meine These, welche ich in diesem Blog vertreten möchte – ist die Schulleitung entscheidend, wenn es darum geht, dass Inklusion an unseren Schulen langfristig gelingt. Ich werde im Folgenden die These aus drei Perspektiven diskutieren.
- Ebene der Politik
Die Schweiz hat sich mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention zu einem inklusiven Schulsystem verpflichtet. Während der Bundesrat die Konvention unterschrieben hat, haben die Kantone die Grundlagen für die Umsetzung erarbeitet und in Kraft gesetzt. Nun liegt der Ball bei den Schulen und dies mit der schwierigsten Aufgabe: Die ‘Schule für alle’ zur Alltäglichkeit werden zu lassen. Die Schulleitung hat die Aufgabe dafür zu sorgen, dass die Schule inklusiv ist.
Die politische Stimmung hat sich in den letzten Jahren jedoch gewandelt. Mit Inklusion lassen sich heute keine Wahlen gewinnen, sodass sich die Politik unterdessen eher weniger um das Thema kümmert und die Schulleitungen damit allein lässt. Für die Schulleitung wäre es das Einfachste, sich beim Thema Inklusion zurückzulehnen und abzuwarten. Inklusion light genügt ja auch.
Nimmt man die Vision einer Schule für alle jedoch ernst, dann braucht es eine starke Schulleitung, welche diese Vision will und mit den Lehrpersonen Tag für Tag – bei allen Schwierigkeiten und Anstrengungen – umsetzt. Zur Aufgabe der Schulleitung gehört auch die Führung von unten – der Schulpflege immer wieder zu erklären, warum die Inklusion pädagogisch wesentlich ist und die UN-Konvention nicht nur aus rechtlichen, sondern auch pädagogischen Gründen umgesetzt werden muss.
- Ebene der Spezialistinnen und Spezialisten
Um den unterschiedlichen Lernbedürfnissen der Schülerinnen und Schüler gerecht zu werden, braucht die Inklusive Schule Spezialistinnen und Spezialisten und Fachwissen unterschiedlicher Disziplinen. Das Wissen der Spezialistinnen und Spezialisten ist sehr wertvoll und wichtig – gleichzeitig aber auch begrenzt.
Ich will dies an einem Beispiel illustrieren: Schulpsychologinnen und Schulpsychologen können eine sehr differenzierte Analyse von Schülerinnen und Schüler vornehmen und den Schulen eine zusätzliche Perspektive anbieten. Gleichzeitig sagt eine Diagnose wenig darüber aus, was ein Kind aus pädagogischer Sicht benötigt. So ist beispielsweise der IQ-Wert ein sehr ungenauer Indikator, zumal er keine Aussage darüber macht, wie ein Kind pädagogisch gefördert werden kann. Die Frage der Förderung kann nur im Austausch mit den betroffenen Personen erfolgen. Wir werden beim nächsten Punkt nochmals darauf zurückkommen.
Die Problematik der Unmöglichkeit einer aus pädagogischer Perspektive objektive Diagnose zeigt sich bei der Frage der Ressourcen. Unser Schulsystem sieht vor, dass die Schulen für die Förderung und Unterstützung von Kindern und Jugendlichen mit einer Behinderung zusätzliche finanzielle und/oder personelle Ressourcen erhalten. Die Frage, ob für eine Schülerin oder einen Schüler zusätzliche Ressourcen nötig sind, können immer nur diskursiv und innerhalb eines breiten Beurteilungsrahmens beantwortet werden.
Hier stellt sich das Problem, dass die Pädagoginnen und Pädagogen, welche mit dem Kind arbeiten, richtigerweise immer eher für eine zusätzliche Förderung einstehen. Ihre Aufgabe ist es, ein Kind möglichst gut zu fördern. Wenn niemand den Blick auf das ganze System nimmt, haben wir dadurch die Situation – die wir seit einigen Jahren im Kanton Zürich haben – der steigenden Kosten in der Sonderschulung. Dies ist nicht nur ein ökonomisches, sondern auch pädagogisches Problem: Nicht nur die Kosten steigen, sondern auch die Anzahl von Kindern und Jugendlichen mit einer Behinderung.
Wir haben im Kanton Zürich unterdessen Schulen, bei denen 15 Prozent aller Schülerinnen und Schüler eine Behinderung haben. Die Einführung der integrativen Sonderschulung in der Regelklasse hat paradoxerweise teilweise dazu geführt, dass mehr Kinder mit der Etikette ‘Sonderschülerinnen und Sonderschüler’ ausgestattet werden und – um mit Link (2013) zu sprechen – das Feld, was als normal angesehen nicht breiter, sondern enger wurde. Das ist das Gegenteil von dem, was Inklusion eigentlich will.
Die richtige Person, welche nahe genug an der Pädagogik und gleichzeitig das ganze System im Blick hat, ist die Schulleitung.
- Ebene des Unterrichts
Inklusion wird vor allem im Unterricht sichtbar. Und Inklusion ist sehr streng. Sie bringt Pädagoginnen und Pädagogen immer wieder an den Rand ihres Könnens und ihrer Kräfte – manchmal auch darüber hinaus. Ich kann mich noch gut erinnern, wie ich vor vielen Jahren für zwei Wochen eine Stellvertretung in einer Kleinklasse (damals wurde noch kaum von Inklusion gesprochen) übernommen habe. Ich fühlte mich wie in einem Minenfeld. Jede Minute konnte irgendwo ein Konflikt aufbrechen, ein Schüler einen Tisch umwerfen oder eine Schülerin laut durch das Klassenzimmer schreien. Abends war ich selten so müde, aber auch beglückt. Es war eine unheimlich spannende und bereichernde, aber auch strenge und teilweise überfordernde Aufgabe für mich.
Inklusion bedeutet auch, dass die Lehrpersonen unterstützt und geschützt werden müssen. Das ist vielleicht die wichtigste Aufgabe, welche die Schulleitung hat. Nimmt die Schulleitung diese nicht wahr, besteht die Gefahr, dass Pädagoginnen und Pädagogen krank werden, sich von der Inklusion abwenden oder sich in die ‘Schein-Inklusion’ mit Mandala-Bildern und verdeckten Kleinklassen flüchten.
Im Zentrum steht der Mensch, wie er ist
Ich halte die Inklusion aus ethischen, gesellschaftlichen und auch pädagogischen Gründen für wichtig. Ich habe den Wunsch nach einer Gesellschaft, in der alle Menschen teilhaben und sich nach ihren Möglichkeiten und ihre Art einbringen können. Im Zentrum steht das ‘Mensch-Sein’ und nicht die körperliche Verfassung, die sexuelle Orientierung, der religiöse Glaube oder die kulturelle Herkunft. Schulen leisten dazu einen grossen Beitrag.
Wenn ich davon spreche, dass die Schulleitung wesentlich ist, dann meine ich nicht nur die Schulleiterin oder den Schulleiter, sondern sehr viel mehr das Gremium der Schulleitung. Die vielfältigen Aufgaben einer Schulleitung kann eine Person alleine gar nicht erfüllen. Aufgaben können aufgeteilt und gemeinsam verantwortet werden. Diversität kann auch hier eine Chance sein.
Niels Anderegg, Leiter Zentrum Management und Leadership, PH Zürich
PS: Die These dieses Blogs habe ich ausführlicher in einem Buchbeitrag ausgeführt. Das Buch sollte demnächst auch in der Bibliothek der PH Zürich ausleihbar sein.
PPS: Und wer sich mit dem Thema an einer Tagung auseinandersetzen will: Zusammen mit der HfH organisieren wir die Tagung ‘Schule leiten inklusiv’. Es hat noch freie Plätze.
PPPS: Und wer sich noch vertiefender mit dem Thema auseinandersetzen will: Im Herbst 2020 startet ein der neu konzipierte CAS ‘Schule inklusiv führen’, den wir zusammen mit der HfH organisieren. Zusammen mit Brigitte Gardin-Baumann von der HfH werde ich diesen Lehrgang leiten. Die Ausschreibung des CAS erfolgt Ende November 2019.
Bild: pixabay.com
Lieber Niels
Sehr spannende und wichtige Diskussion. Inklusion ist ganz bestimmt eine Aufgabe der Schulleitung, zugleich aber eine auf dieser Ebene oft unlösbare, um so mehr muss man sich ihr stellen. Sie scheint aber auch auf der politischen Ebene unlösbar und ebenso auf Ebene des Unterrichts. Das deutet meiner Meinung nach darauf hin, dass wir es mit einem Problem zu tun haben, dass nur ein Symptom für ein systemisches Problem ist. Steuerung über Ressourcen ist zwar wichtig, geht aber am Problem vorbei. Nach meiner Erfahrung kommt man einer Lösung nur näher, wenn man die Ebenen so weit es geht verbindet und einen Dialog mit möglichst vielen im System in Gang bringt. Dazu gehören auch die Eltern. Vielleicht sind ja die Schulleitungen die, die einen solchen Dialog in Gang setzen können. Er wird auf jeden Fall nicht in Gang kommen, wenn jeder genau und professionell seine Aufgaben erledigt.
Lieber Eckart
Ich teile deinen Gedanken, dass Inklusion nie lösbar ist. Sie kann und wird in der Praxis gestaltet – und hier kommt nach meinen Einschätzungen der Schullleitung eine wichtig Aufgabe zu. Ja, Führung ist systemisch und weniger hierarchisch.
Liebe Grüsse
Niels
Lieber Niels
Ja, weil es ein systemisches Problem ist, muss die Schulleitung ihre Rolle, die sie im System hat, überschreiten, um einer Lösung näher zu kommen. Wenn nämlich jeder im System genau seine Rolle einhält, dann erhalten wir genau das Ergebnis, das wir jetzt haben.
Herzliche Grüsse
Eckart
Lieber Niels Anderegg, lieber Jörg, der mich immer wieder mal herausfordert, auf die Beiträge hier zu reagieren 😉
Als Schulleiterin einer heilpädagogischen Schule werde ich nicht auf alle drei Thesen eingehen. Aber einige ergänzende Gedanken.
Menschen sind verschieden und können Unterschiedliches- dem hat Schule Rechnung zu tragen. Das kann Schule jedoch genau hier, genau jetzt nur im Rahmen dessen, was mit den vorhandenen Ressourcen möglich ist.
Nach meiner Erfahrung leisten viele Lehrpersonen und Teams bereits unglaublich tolle Arbeit, um guten Unterricht für alle zu gestalten. Die Haltung der Schulleitung trägt im Einzelfall entscheidend dazu bei, dass alle Energie auf das “wie” verwendet werden kann. Inklusion muss als Leitidee zu wertgeleitetem Handeln führen.
Heilpädagogik legt den Fokus auf den Menschen in seinem «So- Sein» in seiner Beziehung zur Welt. Sie passt sich den Möglichkeiten des Einzelnen an. Dieses Selbstverständnis verstärkt ein bereits vorhandenes Dilemma im Schulbetrieb, das hoch engagierte Lehrpersonen häufig belastend erleben: Schule soll Gleichbehandlung leben und sich gleichzeitig noch stärker im Rahmen ihrer Möglichkeiten dem Individuum anpassen.
Wir werden keine ideale Lösung für dieses Dilemma finden. Diese Spannung in der Umsetzung auszuhalten, sinnvolle Umsetzung zu unterstützen und bei der Lösungsfindung aktiv mitzugestalten, darin sehe ich die Hauptaufgabe von Schulleitungen.
Gelingende Schule für alle muss als Teamaufgabe verstanden werden. Ich traue Teams zu, dass sie sehr gut entscheiden können, wann in welcher Klasse was gerade sinnvoll ist. Mit mutigen Schulleitungen, die ihren Gestaltungsraum nutzen und das Team in die Diskussion einbeziehen. Schulleitungen müssen bereit sein Verteilschlüssel, Räume, Unterrichtsformen und Zuständigkeiten neu zu definieren, weil sie sich diese pädagogischen Mittel nicht nehmen lassen.
Und was mich heute zum Schreiben motiviert hat: Schulleitungen von Sonderschulen und Regelschulen müssen noch stärker im Austausch sein. Lasst uns gemeinsam schauen, was sich machen lässt… Einzelfall für Einzelfall. Zusammen. Wenn man die Sonderschule nicht als das Gegenteil der “Schule für alle”, sondern als ein Teil davon versteht, haben wir viel mehr Möglichkeiten. Ich freue mich auf den weiteren Austausch.
Liebe Brigitte Portmann
Das kann ich sehr unterstützen! Inklusion ist immer ein Dilemmata – Ahn-Mai Boger spricht sogar vom Trilemmata – das gemeinsam gestaltet werden muss. Lehrpersonen – und damit meine ich auch SHPs, etc. – brauchen für ihre Arbeit Freiheit und Gestaltungsmöglichkeit und gleichzeitig Sicherheit. Auch hier ist die Schulleitung gefordert. Führung in einem solchen Verständnis ist sehr viel weniger hierarchisch als systemisch. Die Schule ist eine Expertenorganisation.
Danke für das Teilen deiner Gedanken!
Niels