Als Schulleiter einer Tagessonderschule begrüsse ich den neuen Berufsauftrag, weil er Zusammenarbeit als wesentliche Aufgabe von Lehrpersonen anerkennt und ihr Zeit einräumt. Zusammenarbeit oder Kooperation – eine Mega-Aufgabe unserer Zeit. Auch im Lehrplan 21 ist sie deshalb ein wichtiger Lerninhalt. Hilft der neue Berufsauftrag, angemessen zusammenzuarbeiten oder schränkt er unnötig ein?
Mir gefällt dazu die Unterscheidung von blauer und roter Kooperation von André Woodtli. Blaue Kooperation wirkt bei Prozessen, deren Lösungen im Prinzip bekannt sind. Je genauer die einzelnen Schritte vorher beschrieben werden, um so besser die Lösung. Die Schule kennt eine Unzahl blauer Prozesse, vom Lehrplan bis zur Schulordnung.
Was helfen diese aber, wenn Chaled sichtlich erregt vor mir steht und “Ich hasse Sie!” schreit? Hier sofort eine Massnahme zu verhängen, wie es der Massnahmenkatalog vorsieht, kann ziemlich daneben liegen.
Wenn es mir gelingt, ruhig zu bleiben und “Warum?” zu fragen, durch weiteres Nachfragen eine Beruhigung herbeizuführen und dann in einem Dialog herauszufinden, was ihn bewegt, kann das für diesen Schüler eine entscheidende Erfahrung sein. Vielleicht erfahre ich etwas über seine Situation zuhause, seine Erlebnisse als Flüchtling oder vielleicht auch über meine Wirkung als Schulleiter. Wieviel Zeit ich, die Klassenlehrperson oder die Schulsozialarbeit dafür aufwenden muss, steht nicht im Berufsauftrag, sondern ergibt sich aus der Situation. Dies ist rote Kooperation.
Rote Kooperation ist nicht so offensichtlich, weil sie etwas Ungeplantes enthält. Sie kann erst im Nachhinein beschrieben werden und sie eignet sich nicht als Vorlage für spätere Fälle. In der Pädagogik gibt es viele rote Probleme.
Nach meiner Erfahrung sind es oft die blauen Lösungsversuche für rote Probleme, die eine Situation ‘unhaltbar’ machen und uns überfordern. Professionalität heisst in einem roten Prozess gerade nicht, genau zu wissen, was zu tun ist, sondern zuzuhören, mitzufühlen, inne zu halten, einzubeziehen, zu informieren und gemeinsam Perspektiven zu entwickeln. Das alles braucht Zeit. Die gefundenen Lösungen verlaufen eher nicht entlang blauen Wissens, sondern sind kreativ und dynamisch.
Wie die richtige Mischung von blauer und roter Zusammenarbeit aussieht, muss man in einem Lernprozess herausfinden. Der neue Berufsauftrag ist mir deshalb willkommen, weil er mir die Freiheit gibt, Ressourcen für Zusammenarbeit einzusetzen. Als Messinstrument für die Leistung meiner Lehrkräfte eignet er sich aber weniger.
(Zum Thema blaue und rote Kooperation: André Woodtli. Der kategorische Kooperativ. AJB 2016)
Eckart Störmer, Schulleiter Tagesschule Oberglatt
Danke, Eckart, für diesen spannenden Beitrag. Die roten und blauen Prozesse sind für mich zwei neue und äusserst hilfreiche Metaphern. Und das der nBA nicht nur die Ressourcen für die blauen Prozesse, sondern auch auch den Rahmen und die Freiheit für die roten Prozesse gibt, ist ein wesentlicher Punkt. Da rote Prozesse nicht planbar sind, heisst dies, dass die Schulleitungen mit grosszügigen Pauschalen arbeiten müssen d.h. den Lehrer*innen Zeit für rote Prozesse geben, so dass sie auch Zeir für diese haben. Da rote Prozesse ein Teil des Unterrichts ist, geht dies jedoch nur, wenn die Schulleitung die ganze Arbeitszeit im nBA berücksichtigt. Etwas das ich, wenn es nicht darum geht Zeit zu sparen oder Arbeit zu kontrollieren, sehr sinnvoll finde. Schliesslich ist der Unterricht – und wahrscheinlich gerade auch das Gestalten der roten Prozesse – das wesentlichste an unseren Schulen.
Lieber Niels
Ich denke auch, dass das Wesentliche des Unterrichtens in roten Prozessen erbracht wird. Unser Wunsch nach Professionalisierung und Standardisierung verleitet uns leider manchmal dazu die blauen Prozesse für das Entscheidendste zu halten.
Wer Interesse hat, den Aufsatz von André Woodtli zu lesen:
https://www.tagesschule-oberglatt.ch/index.php?action=download&doc_id=7c5sa04qv0jq3ghjv01tw12mahwef6bxyqmt&download_type=3