Familie Meier, mit Wohnsitz im Kanton Zürich, erhält von der Schulverwaltung die Klassenzuteilung für ihre jüngste Tochter Lea, die am 15. Juli 2014 geboren wurde und zum Zeitpunkt des Kindergarteneintritts, am 20. August 2018, unlängst das vierte Altersjahr vollendet haben wird. Nach Ansicht der Eltern ist Lea noch nicht reif für den Eintritt in den Kindergarten und sie erklären bei der Schulverwaltung übereinstimmend, dass sie ihre Tochter wegen Entwicklungsrückständen noch nicht im Kindergarten sähen und darum ersuchen, Lea um ein Jahr vom Kindergarteneintritt zurückzustellen. Die Schulverwaltungsleiterin erklärt der Familie, dass Kinder, die das vierte Altersjahr erreicht haben bis zum Stichtag, was bei Lea der Fall sei, grundsätzlich regulär einzuschulen seien. Familie Meier möchte sich damit nicht abfinden. Wie gestaltet sich die Zürcher Rechtslage?
Kinder, die das vierte Altersjahr vollendet haben, treten grundsätzlich auf Beginn des nächsten Schuljahres in den Kindergarten ein. Mit Inkraftsetzung des HarmoS-Konkordats am 1. August 2009 verschiebt sich der Stichtag jährlich um zwei Wochen nach hinten, bis schliesslich ab Schuljahresbeginn 2020/21 der 31. Juli als Stichtag gelten wird.
Auf Schuljahresbeginn 2018/19 werden Kinder eingeschult, die zwischen dem 1. Juli 2013 und dem 15. Juli 2014 geboren wurden oder im Vorjahr rückgestellt wurden. Stichtag ist der 15. Juli 2018.
§ 5 Abs. 1 VSG (Volksschulgesetz vom 7. Februar 2006) sieht vor, Kinder gestützt auf ihr Geburtsdatum – bei Vollendung des vierten Altersjahrs unter Berücksichtigung des Stichtags – regulär einzuschulen. Abweichungen vom Grundsatz bedürfen damit einer hinreichenden Begründung. Nach § 3 VSV (Volksschulverordnung vom 28. Juni 2006) kann die Schulpflege dann vom Grundsatz der regulären Einschulung abweichen und die Rückstellung um ein Jahr anordnen, wenn erstens der Entwicklungsstand des Kindes dies als angezeigt erscheinen lässt und zweitens den zu erwartenden Schwierigkeiten bei regulärer Einschulung nicht mit sonderpädagogischen Massnahmen begegnet werden kann.
In formeller Hinsicht müssen die Eltern ein begründetes Rückstellungsgesuch fristgerecht bei der Schulverwaltung einreichen. Nach § 34 Abs. 2 VSV wird die Schulpflege jeweils bis Ende April die Rückstellung anordnen oder aber das Gesuch abweisen.
Blosse Wünsche oder Einschätzungen der Eltern stellen keine hinreichende Entscheidungsgrundlage für die Schulpflege dar. Werden Fachpersonen beigezogen oder werden weitere Abklärungen vorgenommen bzw. angeordnet, wie dies § 34 Abs. 3 VSV vorsieht, muss die Abklärung soweit sachlich fundiert sein, dass die Schulpflege gestützt darauf über den Rückstellungsantrag befinden kann.
Massgebendes Kriterium für den Rückstellungsentscheid bildet der individuelle Entwicklungsstand des Kindes. Liegt ein kinderärztlicher, schul- oder kinderpsychologischer Bericht vor, der Bezug nimmt auf den individuellen Entwicklungsrückstand des Kindes und liegt kumulativ dazu eine Einschätzung vor, ob den Schwierigkeiten des Kindes bei regulärer Einschulung mittels sonderpädagogischer Massnahmen hinreichend begegnet werden kann, wird die Schulpflege in die Lage versetzt, unter Würdigung des individuell-konkreten Einzelfalls und in Ausübung des sogenannten Einzelfallermessens per Mehrheitsbeschluss die Rückstellung anzuordnen oder aber das Gesuch der Eltern abzuweisen.
Den Eltern von Lea steht somit kein durchsetzbarer Anspruch auf Rückstellung ihres Kindes zu.
Thomas Bucher (MLaw), Dozent für Schulrecht, PH Zürich
Danke für die interessanten Ausführungen. Ich glaube, dass es gerade für Führungspersonen sehr hilfreich ist, wenn sie die Rechtsgrundlage bei einer Anfrage von Eltern kennen oder nachschlagen können. Insofern freue ich mich schon auf den nächsten ‘Der Fall’.
Gefragt habe ich mich, welche Rolle die Schulleitung in der geschilderten Situation spielt. Nach der Rechtsgrundlage anscheinend keine (da sie nicht vorkommt). Ich meine aber, dass sie eine sehr entscheidende spielt. In meinem Verständnis einer modernen Schulführung hat sinnvollerweise die Schulleitung die Fallführung bei einer solchen Anfrage. Sie ist die Fachperson (allenfalls zusammen mit Lehrpersonen/Therapeut*innen), welche ‘weiss’ welche Abklärungen es braucht, wie die Situation einzuschätzen ist, etc. Der Entscheid der Schulpflege kann sich deshlab nur auf die Empfehlung der Schulleitung stützen. Wenn die Schulpflege selber Abklärungen treffen würde, wären wir ja im Zeitalter vor der Einführung der Schulleitungen. Ich könnte mir vorstellen, dass damit die Entscheidung faktisch bei der Schulleitung liegt und die Schulpflege nur noch den formellen Akt vollzieht, so dass ein rekursfähiger Entscheid vorliegt.
Wie siehst das aus rechtlicher Sicht aus?
Kann die Schulpflege den Entscheid auch delegieren?
Und wie sieht die Praxis bei den Schulleitungen aus?
Wahrscheinlich ist diese sehr unterschiedlich.
wer wirklich entscheiden kann ob ihr kind eingestuft werden soll oder nicht, sind reife eltern. sie kennen ihr kind und alles andere ist unzureichend.
unser schulsystem krankt sowieso ich würde keines meiner kinder mehr in so ein system schicken. und schon gar nicht mit vier jahren. das ist viel zu früh! das ganze system ist auf wirtschaftstauglichkeit gedrimmt und nichts anderes. und privatschulen werden nicht unterstützt vom staat. ist ja klar. da würde bald niemand mehr die regulären schulen besuchen.
mir graut wenn ich daran denke, dass meine enkel nun in dieses system eingezwängt werden sollen. da geht definitiv mehr kaputt als profitiert wird. wieso ist schulpflicht ? weil sonst niemand mehr käme und weil die eltern beide arbeiten sollen. eine mutter die zu hause ist oder auch ein vater, wir schräg angeschaut.
die eltern müssen beide das geld nach hause bringen, die kinder und die alten schiebt man ab, ins altersheim oder zur schule. und sie selber produzieren am schluss ein burnout mit dieser doppelbelastung.
16 jährige tun sich schwer, mit der berufswahl. es ist auch da vielmals zu früh. wir sind mit 6 jahren in den kindergarten und mit 7 jahren in die schule. das reicht vorig, wenn überhaupt! es gibt studien, dass kinder , wenn sie dort gefördert werden, wo auch ihre begeisterung , ihre lebensaufgabe liegt, in vier jahren den ganzen stoff lernen.
sicher ist es ok grundrechnen und lesen zu lernen. aber algebra ect brauchen die wenigsten. und sprachen lernen die kinder gerne , sofern nicht auf jedes aigu soviel wert gesetzt wird. mein enkel zählt in 5 sprachen auf 10. gelernt mit viel spass während dem zähneputzen. so ist es doch richtig!
und es ist mindestens so wichtig , zu lernen , wie man liebevoll miteinander umgeht und konflikte lösen kann.
das kind da abholen, wo es auch die lust zum lernen hat. dann geht diese auch nicht verloren und nicht einseitiges lernen wo die einen ihre stärken gar nicht einbringen können und dann schon immer das gefühl vermittelt bekommen, ich bin nicht gut genug!
es ist dringend notwendig neue schulsysteme zu fördern.
wer mehr infos möchte , schaut sich mal den hirnforscher gerhard hüther an. er bringt es auf den punkt.
und das hat nichts mit esoterikschgeschwafel zu tun, es hat mit eigenverantwortung zu tun und unseren kindern werte vermitteln, die die gesamte wirtschaft und schule verloren haben, wenn sie denn überhaupt mal da waren.
Das Thema ist ja gerade wieder sehr brisant.
Wir haben uns für Harmos entschieden und damit auch für den früheren Schuleintritt mit dem Stichtag 31. Juli. Wichtig erscheint mir, dass die Schule auf die jüngeren Kinder vorbereitet ist. Die Schulen müssen sich über alle Stufen hinweg mit dem Thema der jüngeren Kinder befassen, damit für sie die Übergänge nicht zu Hürden werden.
Wird dies den Eltern transparent kommuniziert, werden die Rückstellungsgesuche sicherlich abnehmen.
Danke Thomas Bucher für die Ausführung der Rechtsgrundlagen.
Ich kann Niels Anderegg nur zustimmen, sinnvollerweise sollte die Schulleitung die Fallführung haben.
Aus schulrechtlicher Sicht ist darauf hinzuweisen, dass im Vorschulalter – also vor der Einschulung – weder die Eltern noch das Kind selber in einem Rechtsverhältnis zum Staat stehen, das sich auf die Schulpflicht nach Art. 62 BV (Bundesverfassung vom 18. April 1999) oder den Anspruch auf Grundschulunterricht gemäss Art. 19 BV bezieht. Daraus folgt, dass vor der Einschulung kein Schülerdossier erstellt wird und die Eltern darüber hinaus auch einen allfällig vorliegenden Bericht aus dem Frühbereich, vgl. «Meldeformular im Übergang Frühbereich – Schule zur Prüfung sonderpädagogischer Massnahmen» der Schule nicht zur Verfügung stellen müssen. Die Eltern können einen solchen Bericht jedoch mittels Einwilligung an die Schulverwaltung oder/und die dereinst zuständige Fachperson, z.B. die zuständige Kindergärtnerin und Heilpädagogin, weiterleiten lassen. Ohne die entsprechende Einwilligung wird die Schule im Ungewissen bleiben über den Zeitraum der Geburt des Kindes bis zum Zeitpunkt der Einschulung. Damit ist dargetan, dass unter Umständen weder die Schulleitung noch die Schulverwaltung Kenntnis über festgestellte Entwicklungsverzögerungen oder zu ergreifende sonderpädagogische Massnahmen beim einzuschulenden Kind hat. Erst das Gesuch der Eltern um Rückstellung ihres Kindes vom Schuleintritt ermöglicht damit die nähere Abklärung einer ggf. vorhandenen Entwicklungsverzögerung.
Die Sachlage stellt sich dann anders dar, wenn – im Ausnahmefall – die Rückstellung des Kindes um ein Jahr im Laufe des ersten Kindergartenjahres in Erwägung zu ziehen ist. Diesfalls wird die Kindergartenlehrperson ihre Beobachtungen fundiert darlegen (erhebliche Entwicklungsverzögerung, der nicht hinreichend mit sonderpädagogischen Massnahmen begegnet werden kann) und die Lehrperson, die Schulleitung oder die Eltern werden im Vorfeld eines Rückstellungsantrags die Anmeldung beim zuständigen schulpsychologischen Dienst vornehmen. Gestützt auf den schulpsychologischen Bericht, und ggf. durch den SPD zusätzlich eingeholte weitere Berichte, kann ein Antrag auf Rückstellung zuhanden der Schulpflege gestellt werden. Der durch die Fachstelle Sonderpädagogik, den schulpsychologischen Dienst oder die Schulleitung verfasste Rückstellungsantrag hält die Ausgangslage sowie die Erwägungen und ggf. die Empfehlung fest, damit die Schulpflege in die Lage versetzt wird, einen dem Einzelfall angemessenen Entscheid fällen zu können. Die Schulleitung wird mitunter auch die Tragfähigkeit des entspr. Kindergartens in die Erwägungen und Empfehlung einfliessen lassen. In der Regel werden im Vorfeld Elterngespräche im Beisein der Schulleitung oder/und der Schulpsychologin geführt.
Formal ist der Rückstellungsentscheid durch die Schulpflege zu beschliessen. Den Eltern wiederum steht der Rechtsweg mittels eines Rekurses beim Bezirksrat offen.
Im Weiteren verweise ich auf die Anregungen und Leitsätze der Bildungsdirektion des Kantons Zürich unter dem Titel: «Gestaltung des Übergangs von der Vorschulzeit in die Schule: Leitsätze und Anregungen» sowie die Ausführungen des schulärztlichen Dienstes der Stadt Zürich: «Infoblatt bereit für den Kindergarten».
Thomas Bucher (MLaw), Dozent für Schulrecht, PH Zürich
Vielen Dank für den interessanten Beitrag. Da wir im Alltag immer wieder konkrete Situationen antreffen, in welchen schulrechtliches Wissen relevant ist, bin ich froh um solche Beiträge. Also: Gerne mehr davon 🙂 Sinnvollerweise sind diese, wie der obige Beitrag, saisonal abgestimmt. Also beispielsweise im Frühjahr zu anstellungstechnischen Fragen oder jetzt zu den Klasseneinteilungen.
Merci.
Hallo, vielen Dank für die ausführliche Erklärung.
Ich habe einen ähnlichen Fall, mein Sohn hat sein erstes Kindergartenjahr reduziert (3x die Woche) angefangen und halb jährlich erhöht. Dann sind wir gezügelt und haben die Schule gefragt ob er wieder von Anfang an starten kann, jetzt ist er in ersten Kindergartenjahr und die Schule sieht in weiter als die anderen erstklassigen, daher empfehlen sie uns dass er im Sommer mit der Einführungsklasse (EK) anfängt, also das erst Schuljahr in zwei Jahren zu machen. Wir wollen aber kein EK, entweder weiter mit Kindergarten oder direkt die erste Klasse. Kann die Schule einfach selber entscheiden ob er in die EK muss oder direkt die erste Klassen?
Der Blog Schulführung der Pädagogischen Hochschule Zürich bezieht sich – zumindest bei Ausführungen zu rechtlichen Situationen – ausschliesslich auf die öffentliche Volksschule des Kantons Zürich. Die Ausgestaltung schulischer Angebote liegt weitestgehend in der Hoheit der Kantone. Semantisch verwenden wir im Kanton Zürich den Begriff «Einschulungsklasse» und nicht «Einführungsklasse». Da Einschulungsklassen zu den fakultativen sonderpädagogischen Angeboten gehören, entscheiden die Gemeinden eigenständig über das entsprechende Angebot.
Kinder, die zum regulären Zeitpunkt des Übertritts vom Kindergarten in die erste Klasse den Anforderungen noch nicht gewachsen sind und ein weiterer Verbleib im Kindergarten nicht angezeigt erscheint, sind in der Einschulungsklasse adäquat zugeteilt. Da Einschulungsklassen mit maximal 14 Schülerinnen und Schülern geführt werden, ist eine individuelle Förderung der Schülerinnen und Schüler in hohem Masse möglich. Dies führt dazu, dass sie nach einem Jahr die Voraussetzungen für einen Übertritt in die Regelklasse erfüllen und gut auf den Besuch der Primarstufe vorbereitet sind. Die Lernziele sind nach § 4 der Verordnung über die sonderpädagogischen Massnahmen an denjenigen der Regelklassen ausgerichtet.
Auf Antrag der Lehrperson oder der Eltern ist bei der Prüfung einer sonderpädagogischen Massnahme eine sog. Standortbestimmung durchzuführen. Hierbei werden der Förderbedarf, die Förderziele und der weitere Verlauf festgelegt. Sollte zu diesem Zeitpunkt keine Einigung zwischen den Beteiligten zustande kommen oder sollten Unklarheiten bestehen, wird in der Regel eine schulpsychologische Abklärung durchgeführt und es werden nach Notwendigkeit weitere Fachpersonen beigezogen.
Die Entscheidung über die sonderpädagogische Massnahme findet primär durch Einigung zwischen Lehrpersonen, den Eltern und der Schulleitung statt. Urteilsfähige Kinder sind anzuhören, also in den Entscheid einzubeziehen. Im konkreten Fall dürfte altersbedingt noch nicht von Urteilsfähigkeit auszugehen sein.
Das Gespräch zwischen den genannten Akteuren stellt das beste Fundament dar, um scheinbar oder tatsächlich ungleich gelagerte Interessen bestmöglich zu koordinieren. Nicht selten werden im Gespräch Unklarheiten, Bedenken oder Ängste beseitigt.
Ich rate Ihnen daher, erneut das Gespräch zu suchen und Ihre Argumente darzulegen. Gleichzeitig gilt es, offen und zugänglich zu bleiben und die Einschätzung von Fachpersonen, die allesamt dem Kindeswohl verpflichtet sind, also die bestmögliche Förderung für Ihr Kind anstreben, ernst zu nehmen.
Sollte dennoch keine Einigung zustande kommen, wird die Schulpflege gestützt auf § 26 Abs. 2 der Verordnung über die sonderpädagogischen Massnahmen hoheitlich über die zu ergreifende sonderpädagogische Massnahme entscheiden.
Thomas Bucher (MLaw), Dozent für Schulrecht, PH Zürich