Ich sitze im Tram Richtung Helvetia und fahre durch die Zeit. Gestalten und Gesichter huschen, Geschichten ziehen vorbei. Auf dem Bundesplatz sitzt die Klimajugend und singt.
Nächster Halt: 1989. Sonniger Wintertag, frostgetrocknet. An der Reuss zieht es. Die Füsse gefroren, eisiger Wind im Kragen. Luzern erwartet seinen neuen Bundesrat. Bunte Wimpel, Trachtenmädchen, Bratwurst vom Grill.
Der Herr verkauft Stumpen, baut Fahrräder. Auch für die Armee. Ein entschlossener Gesell.
«Hausmänner statt Wehrmänner» steht auf einem Transparent. Am Rand des Festplatzes lungern einige Revolutionäre beim Ufer-Steg. Sie haben ihre Babys aus den Kinderwagen genommen und wiegen sie auf dem Arm, während sie Blumen verteilen. Die Kleinen, quengelig, mögen nicht mehr warten.
Gefahr droht dennoch nicht. Einige ältere Herren – Aktivdienstgeneration – haben alles im Griff. Einst haben sie an der Grenze den Hitler vertrieben. Da werden sie mit ein paar Kommunisten auch noch fertig. Mit Schimpf haben sie die Bande umzingelt und halten die Wartenden in Schach. Diese verweigern beleidigt den Streit: Die Demo hat doch noch gar nicht angefangen!
Dann bewahrheitet sich an den Rentnern, wovor diese Rüstigen selbst immer warnen: Mangelnde Verteidigungsbereitschaft lädt zu Gewalt. Berauscht durch ihren Anfangserfolg sinnen die Herren auf den Endsieg und greifen den Kessel an. Hauend und stechend gehen sie mit ihren Schirmen auf die Pazifisten los. Aus einer geplatzten Stirn strömt Blut, Kinderwägen und Väter straucheln, rückwärts treten Füsse in den Fluss, Hände mengen sich an Kragen, es wird um Stoff gerungen, an Fahnen gezerrt, die Jugend belehrt und – da sich diese nicht mal wehrt – mit Watschen bekehrt. Aber es sind zu viele: Die aufgewiegelten Massen – mindestens zwölf müssen es sein, Frauen, Kind und Kegel – verschanzen sich hinter dem Buggy. Dort können sie sich halten, hoffen auf Entsatz. Doch dann kommt die Kavallerie: Die Stadtpolizei eilt den Gerechten zu Hilfe, das gibt den Ausschlag. Endlich treibt das Banner in der Reuss: Hausmänner und Blumen gehen den Bach runter.
Und gerade jetzt, dümmster Moment, kommt JP um die Ecke: Fünfzehn Jahr, krauses Haar, liebenswerter Chaot von der Revolutionären Jugend – wie immer zu spät mit seiner riesigen roten Sowjetfahne, auf die er so stolz ist. Weil sie so gross ist. Und so rot.
Nächster Halt: Zurück in Bern. Schmierikon. Ich schlage die Zeitung auf. Alles wird dreckig jetzt. Zwei Erwachsene reden gemeinsam mehr vulgäres Zeug als fünfhundert engagierte Jugendliche. Was diese um der Sache willen hinkriegen – Selbstdisziplin –, machen jene mit Unbeherrschtheit binnen Sekunden platt. «Wer hat angefangen?» – Ernsthaft jetzt? Sind wir denn im …?! Keine Gewalt, auch nicht mit Worten. Niemanden beleidigen! Die Jugendlichen haben das in ihren Aktionstrainings geübt. Aber kann man sowas auch von Volksvertretern verlangen?
Bin ich froh, fährt das Tram weiter.
Die Stadtpolizei hat die Fahne mittlerweile konfisziert. Monate früher als in Moskau fällt die UdSSR an der Reuss. Ach JP – Revolutionär und Freund von Gandhi! Deine Ideen sind noch wirrer als dein Haar …! Auch die Kinderwagen sind inzwischen – des Platzes verwiesen – mutlos entrollt. Kampfmontur hat äusserst beruhigende Wirkung.
Stille auch auf dem Bundesplatz. Tag danach. Den Müll auf den Strassen kann man kehren. Aber bei den Erwachsenen – kommt mir vor – hilft keine Dusche. Dreck, geschleudert, bleibt kleben. Und wie reinigt man – kommt mir vor – befleckte Kinderseelen? Nichts als Schmutz. Kein Wort von Klimaschutz.
«Wer hat angefangen?» – Echt jetzt?!
In Luzern sitze ich inzwischen neben JP auf dem Posten. Der Polizist vor uns hat Zeit.
Ich bin eigentlich nur als Übersetzer dabei. Weil JP den Ton nie trifft: Dauernd deuten die Beamten seine Leidenschaft als Trotz.
«Nur mal am Rande: Wie züchtet man eigentlich einen Camenisch?»
Gekommen sind wir wegen der Fahne. Nicht, dass mir an der das Geringste liegt. Die Sowjetunion ist so gut wie Geschichte. Wegdemonstriert von Menschen. Die haben sich versammelt. Friedlich. Trotz Verbot. Das finde ich alles gut so.
Aber um die Meinungsfreiheit sorg ich mich. Und um JP («Denn sie wissen nicht, was sie …»): Der trifft vielleicht den Ton nicht immer, aber er ist da. Lebt und denkt. Vielleicht auch oft krude und verkehrt, aber stets mit seinem eigenen Kopf, der Tropf.
Und plötzlich wird es ernst. Für die Klimaschützer. Für JP. Der Polizist will ihn nicht mehr gehen lassen, kriegt er ihn schon endlich zu fassen. Für die freie Meinung wird nun die Rechnung präsentiert. Nicht noch erst lange rumlamentiert. Ritalin in Vollmontur, das kostet eben. Diese Pille wird nicht umsonst gegeben!
Wenn alles Watschen nicht hilft und nicht die Polizei, dann ist noch lange nichts vorbei. Bleibt noch die Schweizer Wunderwaffe: Gerichtsvollzug, Betreibungsamt. Würgegriff der anderen Art – Luft abdrücken durch Pfänden.
Das funktioniert: Kindheit beendet. Leben verbaut. Und Ruhe ist. Nächster Halt: Amtshausgasse. – Echt jetzt …?
Peter A. Kaiser studiert an der PH Zürich und arbeitet als Tutor im Schreibzentrum.