Farben und Phobien

Fürchten lernen. (Edition Moderne, 2023)

Ein Kind liegt zeichnend im Bett und findet sich beim Einschlafen auf einem Horrortrip der selbst erschaffenen Bilder wieder. In halluzinierenden Nächten vollzieht sich die Erkenntnis der eigenen Endlichkeit, Panikattacken werden in der Folge zum ständigen Begleiter des Protagonisten dieser Coming-of-Age-Geschichte. Alpträume und Schreckensvisionen legen den jungen Künstler schliesslich auf die Therapiecouch, wo er Erlösung findet: Er stellt sich den Geistern, indem er sie zeichnet, anerkennt so die eigene Hinfälligkeit und transformiert sie in ein überwältigendes Buch.

Rettung durch Kunst. Nando von Arbs Graphic Novel besticht durch das besondere Verhältnis zwischen sprachlicher Nüchternheit, emotionaler Tiefe und bildnerischem Ausdruck. Horror, Selbstironie und Ernsthaftigkeit koexistieren in diesem hochkomplexen, immer überraschenden Wunderwerk aus über 400 Zeichnungen. Was für eine ästhetische und literarische Offenbarung!

Dem Gehirn auf der Spur

Siebeneinhalb Lektionen über das Gehirn. (Rowohlt Taschenbuch Verlag, 2023)

Was ist die Hauptaufgabe des Gehirns, wozu hat es sich entwickelt? Um zu denken, würde man vermuten. Überraschenderweise stimmt das nicht. Die renommierte Neurowissenschaftlerin Lisa Feldman Barrett geht auf ihrer Suche nach einer Antwort bis ins Kambrium zurück – jene Zeit vor 500 Millionen Jahren, in der einfache Lebewesen erstmals auf die Jagd gingen.

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Digitale Schieflage

Alles und nichts sagen. (Kiepenheuer & Witsch, 2023)

Barrierefreie Demokratie oder Informationsapokalypse? In ihren scharfsinnigen Essays zur Digitalmoderne räumt Eva Menasse mit der Vorstellung auf, Medien seien bloss Werkzeuge und somit für die von Menschen angerichteten Verheerungen nicht verantwortlich. Soziale Medien und manipulative Programme hätten in ihrer Wirkung indes mehr mit bewusstseinsverändernden Drogen als mit harmlosen Werkzeugen gemein.

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KI im Schnelldurchlauf

Alles überall auf einmal. (Rowohlt, 2024)

Zurzeit spriessen Publikationen im Dunstkreis von künstlicher Intelligenz aus dem Boden wie Pilze im Herbstwald. Wer bislang einen Bogen darum herum gemacht hat, erhält mit der Publikation der beiden Professorinnen für Kommunikation an der Universität St. Gallen eine griffige Einführung in die vielfältigen Aspekte von KI, mit einem Schnelldurchlauf zu deren Geschichte und Funktionsweise, rechtlichen, ethischen, ökologischen Fragen, zum Veränderungspotenzial von KI in Bezug auf Arbeit, Demokratie etc.

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Alphabetisierung mit Video

Das Schauen, Liken und Teilen von Filmen und Videos ist dank Tiktok und Instagram fester Bestandteil der digitalen Kultur von Jugendlichen. Doch wie steht es um die Kompetenzen, audiovisuelle Medien kritisch zu hinterfragen und selbst zu produzieren?

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Was ist Wahrheit?

Die Zukunft der Wahrheit. (Hanser, 2024)

Wahrheit ist ein arg strapazierter Begriff. Das ist nichts Neues, denn die Menschheitsgeschichte führt uns seit Tausenden von Jahren vor Augen, wie Wahrheiten verzerrt, verleugnet und immer wieder von den Mächtigen für sich beansprucht wurden, um eigene Interessen durchzusetzen. Wie der Podcaster in der Netflix-Serie Bodkin vermutet, tritt Wahrheit wie die sichtbaren Spektralfarben eines Prismas vermutlich nur bruchstückhaft zutage und entzieht sich als Ganzes letztlich unserer Erkenntnis.

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Faszination des Schreibens

Die Geschichten in uns: Vom Schreiben und vom Leben. (Diogenes, 2024)

Benedict Wells wollte sich eine Auszeit vom Schreiben nehmen und stolperte in ein neues Buch über das Schreiben. Im Grundton und Aufbau folgt er darin Stephen Kings «On Writing: A Memoir of the Craft» (2000; dt. «Das Leben und das Schreiben»), einem unbestrittenen Klassiker des Genres. Auch Wells beginnt mit Autobiografischem. Er blickt zurück auf seine Kindheit und Jugend, erzählt von schwierigen Anfängen und berichtet zwischen schonungsloser Selbstkritik und Ironie, wie er zum Schreiben fand und erst nach zahlreichen Rückschlägen damit Erfolg hatte. «Ich habe Geschichten erfunden», gesteht er im Vorwort, «weil ich meine eigene lange nicht erzählen konnte.»

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Wertvolle Momentaufnahme zu KI und Sprache

Was macht KI mit unserer Sprache? (Dudenverlag, 2024)

«Was macht KI mit unserer Sprache?», fragt Christoph Drösser in seinem Büchlein – und er rät uns: «Lesen Sie dieses Buch möglichst schnell.» Tatsächlich sind seine Betrachtungen eine blosse Momentaufnahme. Für den weiteren Diskurs rund um künstliche Intelligenz und generative Technologien sind Drössers Überlegungen allemal wertvoll.

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Literarischer Perspektivenwechsel

Mark Twain zufolge sind Klassiker Bücher, die viel gelobt, aber nicht gelesen werden. Trotz langem Haltbarkeitsdatum müssen auch diese Werke immer wieder neu aufgelegt werden, um nicht unter den Bergen der Novitäten zu versinken. Für ihre Revitalisierung sorgen nicht die Eingriffe ins Original, die es bloss dem scheinheiligen Zeitgeist unterjochen, sondern allein die aufmerksame und den historischen Kontext berücksichtigende Lektüre.

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