Anna-Tina Hess: Ich habe diesen Sommer meine feste Stelle aufgegeben, um zu vikarisieren. Ich möchte so andere Schulhäuser kennenlernen, um mich auf dieser Basis im nächsten Jahr für eine Festanstellung zu entscheiden. Mein erstes Vikariat begann kurz nach den Sommerferien in einer Privatschule, wo ich für fünf Wochen zwei 3.-Sek-Klassen übernahm. Werden sie mich mögen? Werde ich es schaffen, in so kurzer Zeit eine Beziehung aufzubauen? Diese Fragen gingen mir kurz vor Antritt des Vikariats durch den Kopf.
Anna-Tina Hess: «Oh gasch id Ferie?», fragte mich meine Nachbarin, als ich kürzlich mit gepackten Koffern das Haus verliess. «Nei, is Klasselager …», antwortete ich. Sie wünschte mir viel Spass. Ich zögerte einen Moment, bevor ich mit «Danke!» antwortete. Das Zögern kam nicht von ungefähr und wenn Sie die Kolumne von meinem Kollegen Georg Gindely bereits gelesen haben, dann wissen Sie warum. Was die Nachtruhe angeht, so ging es uns kein bisschen anders. Bei uns kam aber eine zusätzliche Herausforderung dazu: die Küche.
Es gibt philosophische Formeln, in denen Erfahrungen angesprochen werden, die wir am eigenen Leibe gemacht haben und am liebsten für uns behalten möchten. Hierzu gehört Ernst Blochs Diktum vom «Dunkel des gelebten Augenblicks». Entsprechend sind wir im blinden Fleck unserer Selbst- und Weltwahrnehmung ganz nah bei uns, zumindest für Momente, Minuten und, wenn wir Glück haben, für länger – mit geliebten Menschen, vor grossen Kunstwerken oder inmitten der unfassbaren Reize der Natur. Diese ebenso intensiven wie intimen Momente möchten wir noch in der Erinnerung nicht preisgeben; teilen wir sie mit, teilen wir sie also, teilen sie sich, verlieren sie ihren Glanz als etwas Einzigartiges. Dabei versagt uns bisweilen die Sprache und im «Dunkel des gelebten Augenblicks» wird es unerwartet ungemütlich.
Anna-Tina Hess: Klavier spielen. Singen. Regelmässig Yoga. Permakultur. Surfen. Akrobatikkurs. Das steht in meinen elektronischen Notizen unter dem Titel «Leben nach der PH». Ich liebe To-do-Listen. Ich habe immer so eine Liste erstellt für die Zeiten nach Ausbildungen. Denn man vergisst allzu schnell, was man eigentlich alles machen wollte, wenn man dann wieder genug Zeit hat.
Theoretisch scheint die Sache so klar wie die bescheinigte Geburtenfolge im Familienbüchlein: Biologische Geschwisterkinder haben eine zur Hälfte identische Anlage und wachsen in ihrer Familie grundsätzlich in derselben Umwelt auf. Welche Rolle die Anlage, sprich das Genom, in der menschlichen Entwicklung spielt und wie es um den Einfluss der äusseren Faktoren steht, beschäftigt die Entwicklungspsychologie seit ihren Anfängen. Der gefundene Konsens wirkt als Maulkorb für ideologische Grabenkämpfe, denn die Wichtigkeit der Anlage, der Umwelt und deren Interaktion gilt mittlerweile als unbestritten und in etwa hälftig verteilt.
Anna-Tina Hess: Ich weiss nicht, wie das damals bei Ihnen war. Wie Sie Ihren Abschluss gefeiert haben? Korkenknallen? Jubelgeschrei? Luftsprünge? Freudige Umarmungen? Feiern ohne Ende? Ich für meinen Teil muss sagen, mein Abschluss war nüchtern, sehr nüchtern.
Textfeedback ist eine scharfe Klinge. Vor ein paar Jahren machte ich ein Interview mit einem Schweizer Autor für ein Literaturmagazin zum Erscheinen seines neuen Romans. Nach langem Gespräch und noch viel längerer Arbeit am Text schickte ich ihm das Interview zum Gegenlesen. Ich fand den Text ziemlich gelungen. Als ich das Interview zurückerhielt, war ich beleidigt. Der Autor änderte sehr viele Stellen ab und kommentierte ausufernd. Nach einiger Überarbeitung schickte ich ihm den Text ein zweites Mal mit dem Ergebnis, dass nun er beleidigt war. Denn aus dramaturgischen Gründen hatte ich nicht all seine Wünsche übernommen.
Anna-Tina Hess: Ich bin grundsätzlich eine Person, die Entscheidungen nicht bereut. Auch wenn ich bis zur Entscheidung selbst mit mir hadere. Habe ich sie einmal gefällt, trage ich die Konsequenzen. Und das meine ich ganz positiv. Denn ich bin der Überzeugung, dass man so oder so nicht zurückkann und sich deshalb besser gleich mit der neuen Situation, für die man sich ja entschieden hat, anfreundet. Und so ging es mir auch mit der Entscheidung, Klassenlehrerin zu werden.
50 Jahre ist es her, seit den Schweizer Staatsbürgerinnen am 7. Februar 1971 von zwei Dritteln der männlichen Stimmbevölkerung das Wahl- und Stimmrecht zuerkannt wurde.
Anna-Tina Hess: Ich habe Kopfschmerzen, mein Nacken fühlt sich steif an wie ein Kleiderbügel. Ich gehe in eine Massage in der Hoffnung auf Erleichterung. Die Massage ist eine Katastrophe. Ich verlasse das Massagezentrum mit hängendem Kopf, die Laune ist am Boden, die Tränen sind zuvorderst. Ausgerechnet da tönt es links von der Seite: «Grüezi Frau Hess!!!» Ich möchte im Boden versinken oder auf der Stelle unsichtbar werden, aber schon hüpft das Unausweichliche auf mich zu: Zwei Schülerinnen! In meiner Freizeit!