«Die Stimmung am Set muss immer wertschätzend sein»

«Es geht immer um die gemeinschaftliche Leistung.» Sabine Boss, Regisseurin. Foto: Nelly Rodriguez

Sabine Boss, Schweizer Regisseurin und Studiengangsleiterin Film an der ZHdK, ist für ihre Filme, TV-Serien sowie Theaterinszenierungen bekannt. Wie sie es schafft, dass alle Schauspieler:innen im richtigen Moment ihre Höchstleistungen abrufen können, erläutert sie im Interview mit Akzente.

Sabine Boss, Sie sind Regisseurin von erfolgreichen Filmen wie beispielsweise «Der Goalie bin ig» oder «Jagdzeit», die mit verschiedenen Preisen ausgezeichnet wurden. Wie muss man sich einen Drehtag vorstellen?
An so einem Drehtag liegt eine konzentrierte Spannung in der Luft. Alles steht bereit, ein Tross von Material und schnell mal 40 Personen mit unterschiedlichen Berufen müssen auf den Punkt bereit sein. Ich probe mit den Schauspieler:innen im Vorfeld. Der Drehtag selber ist dann wie die «Ernte» dessen, was sie für die Szene vorbereitet haben. An diesem Tag gilt es ernst, alles muss auf Anhieb klappen, denn man kann einen Drehtag nicht nachholen. Schliesslich kostet so ein Tag mindestens 40’000 Franken. Als Regisseurin habe ich auch die Verpflichtung der Produktionsfirma gegenüber, keine Überstunden zu machen. Es gilt also, das gesamte Team an Bord zu haben, damit alle von der gleichen Vision ausgehen.

Wie arbeitet es sich mit Prominenten, wie führt man Filmstars?
Die Schauspieler:innen tauchen nicht als Stars am Set auf, sondern verstehen sich ebenso wie der Rest der Crew als Teil des Ganzen und wollen vor allem ihren Job vor der Kamera gut machen. Ich treffe sie vorher zu den Proben und es entsteht ein ganz normales, kollegiales Arbeitsverhältnis. Je bekannter die Schauspieler:innen sind, desto mehr muss man sie aber schützen. Gerade wenn Szenen im öffentlichen Raum gedreht werden, kann es passieren, dass die Neugierde der Umstehenden gross ist und sie mit Selfie- und Autogrammwünschen belagert werden. Deshalb sind Rückzugsräume wie Trailer und Garderoben wichtig. Sie wollen bei der Arbeit wie alle anderen Schauspieler:innen nicht gefeiert werden, sondern sich auf den nächsten Auftritt konzentrieren. In Stars verwandeln sie sich erst, wenn die Promotion für den Film ansteht und sie über den roten Teppich gehen.

Gibt es eine etablierte Art, Regie zu führen?
Wie jemand Regie führt, ist total abhängig von der jeweiligen Persönlichkeit. Es gibt nicht «die eine, richtige Art». Ich versuche, mit allen Abteilungen im Vorfeld klar zu kommunizieren, es ist wichtig, vor den Dreharbeiten alle offenen Fragen zu klären. Manchmal gibt es auch Konflikte und heikle Gespräche, das gehört zu meinem Aufgabenbereich dazu. Aber die Stimmung am Set muss immer wertschätzend sein, das ist mir wichtig. Ich denke, meine grössten Stärken sind Empathie und Humor. Mir ist es aber wichtig, darauf hinzuweisen, dass immer noch mehr Männer als Frauen Regie führen. Speziell bei grossen, teuren Produktionen werden kaum weibliche Regiepersonen angefragt, das traut man uns immer noch nicht zu. Regisseurinnen bewegen sich fast ausschliesslich im mittleren oder im Low-Budget-Bereich. Das wird sich aber hoffentlich bald ändern. Im Studium machen die Frauen mittlerweile 50 Prozent der Studierenden aus.

Wo sehen Sie Möglichkeiten, Frauen zu fördern, damit sie an grosse Produktionen kommen?
Es sollte ein Umdenken stattfinden, sowohl bei den Förderstellen und den Produktionsfirmen als auch bei den Regisseurinnen. Wir müssen uns die grossen Budgets auch zutrauen. Dazu gehört es aber auch, sich für die technischen Belange einer aufwendigen Postproduktion mit Spezialeffekten zu interessieren und sich mit diesen Technologien auseinanderzusetzen. Wir stellen bei den Studierenden an der ZHdK leider fest, dass diese Seminare immer noch deutlich mehr von Männern als von Frauen besucht werden.

In vielen Berufen verfolgen Frauen ihre Karriere weniger intensiv als Männer – dies trifft auch auf Regisseurinnen zu.
Es gibt in der Filmbranche diverse Untersuchungen zu diesem Thema. Und ja, es lässt sich leider nachweisen, dass viele Frauen nach der Geburt eines Kindes aus dem Arbeitskontext ausscheiden. Beim Film ist Teilzeitarbeit, besonders während der Dreharbeiten, je nach Position kaum möglich. Um das zu ändern, müssten intensive Kinderbetreuungsangebote entstehen, die den Umfang einer normalen Kita übertreffen. Das ist natürlich eine Kostenfrage. Wer soll das bezahlen? Die Förderung, die Produktionsfirma oder die Eltern?

Ein wichtiges Thema, doch bleiben wir bei der Filmproduktion. Wie viel Material braucht es für einen Spielfilm und wie geht es nach dem Dreh weiter, wie entsteht ein Film?
Seit digital gedreht wird, ist das Drehverhältnis deutlich grösser geworden als damals mit analogen Kameras. Ich schätze, das Drehverhältnis liegt etwa bei 1:30. Nach den Dreharbeiten fängt die Postproduktion an, also der Schnitt und danach das Sounddesign und die Bildfinalisierung. Ich liebe die Phase im Schneideraum. Man kommt wieder zum Nachdenken, sitzt zu zweit vor dem gedrehten Material und kann die Geschichte nochmals neu gestalten. Oft werden im Schnitt ganze Szenen verschoben oder auch mal gestrichen. Für die Postproduktion nehme ich mir viel Zeit. Es ist ein sehr wichtiger Prozess, der viel länger dauert als die Dreharbeiten.

Sie arbeiten auch für das Theater, eine Inszenierung entsteht mit einem ganz anderen Prozess als ein Film.
Am Theater hat man mehr Probenzeit, der Austausch mit dem Ensemble ist intensiver. Eine Inszenierung wird über mehrere Wochen erarbeitet, es ist ein kontinuierlicher, linearer Prozess mit einer Intensitätssteigerung. Zunächst werden die Szenen auf der Probebühne erarbeitet, dann folgen der Wechsel auf die Bühne und schliesslich die Hauptproben und die Premiere. Danach wird das Stück auf den Spielplan gesetzt und wird immer wieder gespielt. Das heisst, die Schauspieler:innen müssen ihre Rollen jedes Mal wieder neu abrufen. Beim Film wird eine Szene genau einmal gedreht, oft auch nicht in chronologischer Reihenfolge. Deshalb sind die Gespräche und Proben vor dem Dreh so wichtig.

Seit 2017 leiten Sie zudem den Studiengang Film an der ZHdK. Wie gestalten Sie diese Leitungsfunktion?
Gemeinsam mit meiner Stellvertreterin Chantal Haunreiter leite ich den Studiengang, wir funktionieren mit guter Arbeitsteilung. Es ist überhaupt eine grosse Freude, im Team der Fachrichtung Film zu arbeiten. Wir sind es als Filmemacher:innen gewohnt, unser Ego nicht so wichtig zu nehmen. Es geht immer um die gemeinschaftliche Leistung. Wir haben im ZHdK-Team einen intensiven Austausch, die Türe zu unserem Leitungsbüro steht immer offen – für Mitarbeitende, aber auch für Studierende. Eine transparente, wertschätzende Kommunikation ist auch bei der Leitung einer Ausbildung wichtig.

Werden die ZHdK-Studierenden mit künstlicher Intelligenz künftig anders Filme machen als Ihre Generation?
Die Filmherstellung ist in den letzten Jahren fast ausschliesslich digital geworden, viele technische Arbeitsschritte werden längst von künstlicher Intelligenz übernommen. In kreativen Bereichen bleibt KI aber nach wie vor generisch. Wir bieten selbstverständlich Seminare an, in denen wir die Unterschiede zwischen KI und menschlicher Kreativität untersuchen. Das ist ein Thema, welches die ganze Kreativwirtschaft beschäftigt und auch verunsichert.

Filme, Serien, Theater und die ZHdK-Studiengangsleitung – wie bringen Sie Ihre verschiedenen Engagements alle unter einen Hut?
Früher habe ich vieles parallel gemacht, mit dem Resultat, dass ich in alle Richtungen Schuldgefühle hatte und sieben Tage pro Woche durchgearbeitet habe. Nun schaffe ich mir klare Zeitfenster, in denen ich mich auf eine Sache fokussiere. Aktuell findet an der ZHdK ein gesamtübergreifender Wechsel im Studiensystem auf Major_minor statt, da will und muss ich zu hundert Prozent als Studiengangsleiterin präsent sein. Wenn ich bei einer Filmproduktion Regie führe, wird das Leben ein Stück weit der Arbeit untergeordnet. Dies muss man sich einrichten können und ein entsprechendes privates Umfeld haben.

Haben Sie einen Traumfilm oder eine Theaterinszenierung, den oder die Sie in Zukunft realisieren möchten?
Ich würde sehr gerne eine grössere europäische Koproduktion machen. Ich liebe es, nicht nur in der Schweiz zu drehen, sondern auch andere Formen der Produktion zu erleben. Jedes Land hat andere Traditionen und ein anderes Verständnis von Arbeitsabläufen, ich finde diesen Austausch befruchtend – ich lerne gerne immer weiter, das hält mich frisch.

Über Sabine Boss

Sabine Boss wurde 1966 in Aarau geboren. An der Kantonsschule, die sie mit dem Schwerpunktfach Latein abschloss, entdeckte sie ihre Faszination für Theater und Film. Von 1992 bis 1995 studierte sie Film an der Hochschule der Künste (heute ZHdK) in Zürich. Danach entdeckte sie verschiedenste Bereiche für sich – so war sie am Zürcher Theaterspektakel für den Ton verantwortlich oder jobbte an Konzerten und in Filmstudios.

Das Regiehandwerk lernte sie als Regieassistentin in Hamburg. Ihre erste Theaterinszenierung entstand im Jahr 2000 am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg, ihr Stück «Creeps» wurde für den Deutschen Jugendtheaterpreis nominiert. Kurz darauf reüssierte sie mit ihrem ersten Film «Studers erster Fall» mit Regie und Drehbuch. 2003 folgte «Ernstfall in Havanna», einer ihrer bekanntesten Filme. Seither wechselt die Regisseurin erfolgreich zwischen den Sparten Film, Theater oder auch TV-Serie wie etwa mit «Neumatt» oder «Perfekt Verpasst».

Seit 2017 ist sie zudem Studiengangsleiterin der Fachrichtung Film an der ZHdK in Zürich und betreut als Dozentin Studierende im Bachelor und im Master Regie Fiktion.