Das Forschungsprojekt SOGUS der PH Zürich, der PH Bern und der Universität Bern thematisiert sexuelle und geschlechtliche Vielfalt im schulischen Kontext. Im Interview gibt Projektleiterin Christa Kappler Auskunft über die Erkenntnisse und wie diese in die Praxis einfliessen können.
Christa Kappler, worum geht es in diesem Forschungsprojekt und was ist das Ziel?
Das Projekt «Sexuelle Orientierung, Geschlecht und Schule (SOGUS)» möchte einen Beitrag leisten zu einer Schule, die geschlechtliche und sexuelle Vielfalt akzeptiert und wertschätzt. Dazu gehen wir den Fragen nach, wie LGBTIQ+-Jugendliche die Schule erleben und was gemacht werden kann, um diese Themen nachhaltig zu verankern.
Wie ist das Projekt aufgebaut?
Das Projekt besteht aus zwei Teilen – einem Forschungs- und einem Entwicklungsteil: Im Forschungsteil haben wir eine grosse Befragung unter queeren Jugendlichen gemacht, um mehr zu ihrem Erleben und zu spezifischen Herausforderungen und Ressourcen zu erfahren. Im Entwicklungsteil haben wir mit einer Sekundarschule zusammen thematische Blöcke mit Lektionsvorschlägen und dazu passendem Podcast erarbeitet. Weitere Schulen können dies nun kostenlos und niederschwellig benützen, um das Thema Geschlecht in verschiedenen Facetten zu beleuchten.
Weshalb ist dieses Thema so wichtig?
Die Schule ist schon lange nicht mehr nur ein Ort des formellen Lernens, sondern auch ein Lebensraum, wo Kinder und Jugendliche ganz wichtige Erfahrungen für die persönliche und soziale Entwicklung machen. Dazu gehört auch, dass sie ohne Angst und frei von Stereotypen ihre Identität und Bedürfnisse entdecken können. Für queere Kinder und Jugendliche kann das besonders herausfordernd sein, weil die Themen der geschlechtlichen und sexuellen Vielfalt häufig nirgendwo sichtbar sind oder aber negativ erlebt und vermittelt werden. Ihnen fehlen Vorbilder, viele erfahren Abwertungen und Übergriffe.
Seit knapp zwei Jahren läuft dieses Projekt – was war euch dabei besonders wichtig?
Uns war von Anfang an wichtig, nicht bloss über LGBTIQ+-Jugendliche zu forschen, sondern sie in den Forschungsprozess mit einzubeziehen. Darum führten wir zu Beginn zwei Workshops mit sechs queeren Jugendlichen durch, in denen sie uns frei erzählen konnten: Wie erleben sie die Schule? Was sind wichtige Themen, die sie umtreiben? Aus diesen wertvollen Erkenntnissen und in Anlehnung an Befragungen aus den USA haben wir einen Fragebogen zusammengestellt, der während zwei Monaten online aufgeschaltet war. Über 2000 Mal wurde unsere Befragung angeklickt, und 569 junge Menschen haben den Fragebogen ausgefüllt – das sind erfreuliche Zahlen für eine Forschung in der Deutschschweiz!
Wie habt ihr die Teilnehmenden gefunden? Wie seid ihr vorgegangen?
Eine ganz wichtige Partnerin war dabei die Organisation Milchjugend, die grösste und bekannteste schweizerische Jugendorganisation von und für queere Jugendliche. Sie haben uns die Jugendlichen für den Workshop vermittelt und viel Werbung für unsere Umfrage gemacht. Während die Erhebung lief, haben wir uns alle zwei Wochen mit den Leuten von der Milchjugend abgesprochen, um zu schauen, wo noch Potenzial liegt für die Bekanntmachung, zum Beispiel über Instagram oder an ihren Events.
Zu welchen Resultaten seid ihr bei der Befragung gekommen?
Viele queere Jugendliche nehmen die Lehrkräfte, Schulleitungen und weiteres Schulpersonal als recht offen und unterstützend wahr, das ist erfreulich. Jedoch ist der Ton oft sehr feindlich: 92 Prozent hören homophobe Äusserungen von ihren Mitschüler:innen, 49 Prozent vom Schulpersonal. Fast 60 Prozent fühlen sich aufgrund ihrer sexuellen Orientierung, ihres Geschlechts und/oder Geschlechtsausdrucks in der Schule unwohl oder nicht sicher, besonders an geschlechtlich markierten Orten wie Umkleideräumen, Toiletten und im Sportunterricht. Und bei 68 Prozent kamen noch nie LGBTIQ+-Themen in Schulbüchern oder anderen Unterrichtsmaterialien vor.
Gab es denn auch besondere Herausforderungen bei dieser Erhebung?
Zwei grundsätzlichen Stolpersteinen sind wir begegnet: Zum einen muss man bei standardisierten Befragungen häufig in Kategorien arbeiten – was wiederum unserem Anspruch zuwiderlief, dass wir Vielfalt abbilden und keine Schubladisierungen machen möchten. Aufgrund dessen haben wir an mehreren Stellen die Möglichkeit für offene Textantworten gegeben, damit die Befragten in eigenen Worten hinschreiben konnten, wie sie sich fühlen und was sie erleben. Das bedeutet deutlich mehr Auswertungsaufwand, war aber sehr hilfreich für vertiefte Erkenntnisse.
Und der zweite Stolperstein?
Untersuchungen zu queeren Lebensweisen fokussieren häufig stark auf Belastungen – man spricht in der Forschung von damaged-centered research. Das ist zwar notwendig, weil so Missstände aufgezeigt werden können, hinterlässt aber auch ein Gefühl von Ohnmacht und Opfer-Sein. Wir haben deshalb bewusst alle – auch positive – Seiten und Ressourcen einbezogen. Unsere letzte Frage war: «Was findest du schön daran, LGBTIQ+ zu sein?» Die offenen Antworten waren eindrucksvoll und zeigten deutlich, wie viel Kraft die queeren Jugendlichen aus ihrer Community ziehen.
Die Thematik der Geschlechtsidentität und sexuellen Orientierung wurde in jüngster Zeit häufig auf der politischen Ebene diskutiert – ist das Fluch oder Segen?
Beides – einerseits haben vielfältige Lebens- und Liebesweisen eine grosse Sichtbarkeit erhalten, man denke an Nemos Sieg beim ESC oder an die Ehe für alle, die 2021 in einer Volksabstimmung angenommen wurde. Viele Pädagog:innen und Eltern wissen schon einiges zu geschlechtlicher und sexueller Vielfalt. Andererseits wird das Genderthema von vielen als zu progressiv und überpräsent wahrgenommen. Das löst auch Befürchtungen und Ängste aus, und die Angriffe sind zum Teil sehr heftig, sodass sich Schulen zurückhalten bei diesen Themen.
Inwieweit zeigt dieses Forschungsprojekt exemplarisch die Bedeutung der Forschung für die Aus- und Weiterbildung von Lehrpersonen von morgen, aber auch die Bedeutung für die Praxis?
Gerade bei Themen, die eine solche gesellschaftliche Aktualität und Brisanz haben, finde ich es wichtig, eine unaufgeregte Diskussion zu fördern und Schulen bei ihrem Bildungsauftrag zu unterstützen. Für eine Versachlichung der Debatte ist es hilfreich, wenn empirische Fakten vorliegen. Geschlechtervielfalt ist eine Realität, und Vielfalt als Bereicherung findet auch im Lehrplan 21 Erwähnung. Die PH Zürich als Aus- und Weiterbildungsstätte von Lehrpersonen kann deshalb dazu beitragen, dass die Schule ein Ort ist, an dem sich alle Kinder und Jugendlichen frei von Angst und einengenden Stereotypen entfalten können.