Anna-Tina Hess: Ich nenne sie hier jetzt mal Fanny und Franz. Ich erkläre gerade eine Aufgabe, als Franz plötzlich von seinem Stuhl aufspringt, zur Tür geht und im Gang verschwindet. Ich weiss gerade nicht, ob ich ihm nachlaufen oder noch meinen Satz zu Ende sagen soll. Ich entscheide mich für Ersteres und erwische Franz, wie er in den Gruppenraum abbiegt: «Äh, was machst du?» – «Ich muss kurz mein Kabel holen.» Ich bitte Franz zurück ins Zimmer und darum, damit zu warten, bis ich die Aufträge erklärt habe.
Franz hat ADS. Er ist unruhig, oft nicht erreichbar, wandert im Zimmer herum und kommt mit nichts vom Fleck. Ich mag Franz, aber er braucht Nerven. Fanny mag ich auch. Sie kommt zwar ständig zu spät, hat ihr Material nicht dabei und schreibt, obwohl sie auf die Prüfungen lernt, furchtbar schlechte Noten. Fanny hat keine Diagnose. Aber sie fällt genauso auf. Im Schulalltag sind wir mit solchen Fällen tagtäglich konfrontiert. Wir fragen uns, wer es wohl hat, dieses AD(H)S, und wer nicht, was davon Charakter, was Erziehungsfolge oder Traumata ist und was ein wirklich neurodivergentes Hirn. Letztlich spielt es aber gar keine Rolle. Denn wir haben alle nur etwas gemeinsam: Wir sind alle anders. Ich sehe es daher als die Aufgabe von uns Lehrpersonen, hier nicht den Menschen für seine Ausprägung verantwortlich zu machen, sondern höchstens den Kontext. Denn wäre der Kontext nicht die Schule, sondern eine Situation, bei der es Mut, Schnelligkeit und Kreativität brauchte – ich bin mir sicher, Fanny und Franz würden zu jenen Jugendlichen zählen, die brillieren.
Georg Gindely: «Du Georg, hütt hani de Otto wieder müesse useschicke.» Wenn ich ins Lehrer:innenzimmer kam und jemand den Satz mit «Du Georg» begann, dann wusste ich, es geht um Otto. In Wirklichkeit heisst Otto natürlich anders. Otto war in der Klasse, die ich während des Studiums übernahm, und hatte ein ADHS, abgeklärt und unbehandelt. Das stellte ihn wie mich vor riesige Herausforderungen. Täglich musste ich schauen, dass Otto nicht irgendeinen Blödsinn anstellte.
Das Schwierigste waren meine Kolleg:innen, die nicht wussten, wie sie mit Otto umgehen sollten. Ich wusste es auch nicht und machte einfach. Ein Vorteil war, dass ich Anfänger war und schnell merkte, dass hartes Durchgreifen kontraproduktiv ist. Ich merkte auch schnell, wann Otto besonders auffällig wurde: wenn mein Unterricht unstrukturiert war. Otto wurde deshalb zu meinem Lehrmeister, was Unterrichtsgestaltung und Beziehungsarbeit angeht. Ich habe in meiner Entwicklung als Lehrperson viel von ihm gelernt. Unser Schulsozialarbeiter hat mir einmal gesagt: Wenn Menschen mit ADHS so schwierig wären, wie man heute oft tut, dann wären sie längst ausgestorben. Dass das Gegenteil der Fall ist, zeigt, wie wichtig sie sind. Otto war wichtig für mich, die Klasse, die Schule. Selbst etwas schaffen, Dinge organisieren: Das war sein Ding. Er hat im Klassenlager jeweils den ganzen Einkauf erledigt und die Küchencrews angeleitet. Er ging voran, wenn man ein Problem kreativ lösen musste. Er hat kein Blatt vor den Mund genommen, wenn ihm etwas nicht passte, und uns damit alle herausgefordert und weitergebracht. Wie es ein guter Lehrer tun sollte.