Ein Tag im Leben der Erde

Umlaufbahnen (dtv, 2024)

Unseren Heimatplaneten einmal von aussen betrachten – das wurde erst durch die Raumfahrt möglich. Am eindrücklichsten sind zwei Aufnahmen aus dem All, die sich als ikonische Bilder ins kollektive Gedächtnis eingeschrieben und unsere Sicht auf die Erde bis heute prägen.

Die Astronauten der Apollo­-8-Mission umkreisen den Mond und werfen als erste Menschen einen Blick auf die Rückseite unseres Trabanten. Am 24. Dezember 1968 schiesst Astronaut Bill Anders (1933–2024) das legendäre Farbfoto der aufgehenden Erde. Über der kargen Kraterlandschaft des Mondes schwebt unser Planet als zarte Blase im endlos schwarzen All. Der Name «Earthrise» ist allerdings irreführend, denn von der uns zugewandten Seite des Mondes ist die Erde immer sichtbar.

Vier Jahre später entsteht während der Apollo-17-Mission das ebenso berühmte «Blue Marble»-Foto, das die Erde als Ganzes zeigt. Ein Vorläufer dieses Bildes hat auch Eingang gefunden in Samantha Harveys mit dem diesjährigen Booker Prize ausgezeichneten Roman Umlaufbahnen (Orig. Orbital):

Auf dem Foto, das Collins gemacht hat, sieht man die Mondfähre mit Armstrong und Aldrin darin, direkt hinter ihnen der Mond, und etwa vierhunderttausend Kilometer weiter dahinter die Erde, eine blaue Halbkugel, in völliger Finsternis schwebend, mit der Menschheit darauf.

Dieses überwältigende Schauspiel bietet sich den Astronaut:innen an Bord des fiktionalen Raumschiffs tagaus, tagein. Durch das Fenster sehen sie den blauen Planeten «im grellen Licht […] wieder einmal wie eine Glasmurmel im schwärzesten All». Nichts Ungewöhnliches, möchte man meinen.

Auf ihrer Mission hat die Crew – zwei Astronauten, zwei Astronautinnen, zwei Kosmonauten – den Globus stets im Blick, beobachtet, wie er gleich einer polierten Kugel unter ihnen vorbeirollt und Kontinente, Meere, leuchtende Grossstädte, Berge, Gletscher und Wüsten lautlos vorüberziehen. Selbst der Taifun, der sich über den Westpazifik Richtung Südostasien schiebt und grosse Verheerungen anrichten wird, erscheint vierhundert Kilometer über dem Erdboden als harmlos schönes Muster.

Samantha Harvey erzählt in ihrem denkwürdigen Roman einen einzigen Tag, obgleich es im Orbit keine Tage im eigentlichen Sinn gibt, so wie in der überirdischen Schwerelosigkeit auch oben und unten ihre Bedeutung verlieren. Sechzehnmal umkreisen die Astronaut:innen aus Amerika, Japan, Grossbritannien, Italien und Russland an diesem Tag ihre terrestrische Heimat, deren physikalische und emotionale Anziehungskraft sie in der Umlaufbahn und bei Verstand hält. Ständig ändert sich die Perspektive und dennoch bleibt sich alles gleich. «Ungefähr neun Monate werden sie alle hier sein, neun Monate schwerelosen Treibens, neun Monate geschwollener Kopf, neun Monate Sardinenbüchse, neun Monate auf die Erde hinabglotzen.»

Mit den Figuren wechseln auch wir die Perspektiven, tauchen in ihre Träume und Erinnerungen ein, nehmen an ihren täglichen Verrichtungen und Aufgaben teil, richten mit ihnen den Blick auf die Erde – und erkennen ihre atemberaubende Schönheit und Zerbrechlichkeit.

Die Übersetzerin und Autorin Julia Wolf schafft es, Samantha Harveys unspektakulär poetische Sprache auf sorgfältige Weise ins Deutsche zu übertragen. Damit erweist sich auch die Übersetzung des Romans als booker-prize-würdig.

Samantha Harvey.
Umlaufbahnen.
Aus dem Englischen von Julia Wolf.
München: dtv, 2024. 223 Seiten.