Ein konstruktiver Umgang mit Diversität an Schulen beinhaltet auch, dass gesellschaftliche Vorurteile, Diskriminierungen und Rassismus thematisiert werden. Wichtig ist, dass Lehrpersonen identitätsprägende Zuschreibungen vermeiden und Räume schaffen, in denen sich Schüler:innen selbst positionieren können.
Wenn Oxana Ivanova-Chessex von Diversität spricht, dann spricht sie nicht zuerst über das Potenzial und die Chancen einer diversen Gesellschaft, sondern sie setzt bei Rassismus, Sexismus oder Klassismus an. Denn die Dozentin, die an der PH Zürich zu Heterogenität und Diversität mit Fokus auf Rassismus lehrt und forscht, macht deutlich, dass konstruierte gesellschaftliche Differenzlinien wie Gender, race – so der korrekte Begriff – oder soziale Klasse immer im Zusammenhang mit Machtverhältnissen und Ungleichheiten gedacht werden müssen. Und dass diese gesellschaftlichen Machtverhältnisse die Institution Schule prägen. «Vielfalt wird auch in der Schule nicht als Normalität gelebt», sagt Ivanova-Chessex. Sie verweist etwa auf die als Ableismus bezeichnete Diskriminierung aufgrund unterschiedlicher Fähigkeiten und körperlicher Möglichkeiten. So gebe es in der Schule eine klare Vorstellung davon, wie sich ein Körper im Unterricht zu verhalten habe – auf der anderen Seite stünden die unterschiedlichen körperlichen Möglichkeiten von Schüler:innen. «Schüler:innen und Familien, die nicht den gesellschaftlichen Normvorstellungen entsprechen, haben Nachteile im Bildungssystem und werden gleichzeitig verantwortlich gemacht, diese kompensieren zu müssen. Das ist die Kehrseite von Diversität, mit der sich Institutionen und Unternehmen gerne schmücken», fasst Ivanova-Chessex zusammen. «Wenn wir hier ansetzen, um über gesellschaftliche Mechanismen der Privilegierung und Benachteiligung nachzudenken und Veränderungen zu initiieren, dann kommen wir weiter.»
Keine Schule ohne Rassismus
Aktuell gibt es in der Bildungsforschung eine Tendenz hin zu einer rassismus- und diskriminierungskritischen Pädagogik, bei der die Frage im Zentrum steht, wie in einer Gesellschaft und Schule, die durch Machtverhältnisse strukturiert sind, eine Bildung für alle gestaltet werden kann. «Der Blick auf Diversität an Schulen hat sich in der Forschung stark gewandelt», sagt Ivanova-Chessex. So prägte in den 70er-Jahren noch die sogenannte Ausländerpädagogik den Umgang mit migrationsbezogener Diversität an Schulen. Diese zielte darauf ab, vermeintliche Defizite von migrantischen Schüler:innen für ihre Integration auszugleichen, gleichzeitig sollte die sogenannte Rückkehrfähigkeit der Schüler:innen aufrechterhalten bleiben, weil man davon ausging, dass migrantische Schüler:innen wieder in die Herkunftsländer ihrer Familie zurückkehren würden. Mit dem Aufkommen der interkulturellen Pädagogik in den achtziger Jahren wurde Diversität stärker als Potenzial dargestellt, doch im Zentrum standen konstruierte kulturelle Unterschiede zwischen migrantischen und nicht migrantischen Personen.
Seit den nuller Jahren dominiert die intersektional ausgerichtete diskriminierungskritische Migrationspädagogik den Diskurs. Im Zentrum steht hier der kritische Blick auf wirkmächtige gesellschaftliche Unterscheidungen und daraus resultierende Privilegien und Benachteiligungen. Ein Beispiel für eine solche mit Macht verbundene Unterscheidung ist das interkulturelle Frühstück, bei dem an einer Schule mit verschiedenen Gerichten aus den Heimatländern der Schüler:innen Diversität gelebt werden soll. Ivanova-Chessex skizziert das Bild eines migrantischen Kindes, das ein Gericht aus seinem Herkunftsland mitbringen soll, das es vielleicht gar nicht kennt, weil es zu Hause Cornflakes oder Butterbrot zum Frühstück isst. Sie sagt: «Es mag sein, dass solche Aufgaben die Selbstpositionierung von Schüler:innen und Familien abbilden. Gleichzeitig finden aber auch Adressierungen statt, die sehr identitätsprägend sein können.» Etwa, dass ein Kind als migrantisch und damit nicht als selbstverständlich dazugehörend adressiert wird. Heute wird ein solch festschreibendes Zelebrieren von Diversität kritisch betrachtet und in der Forschung wird auf die negativen Folgen dieses Bildes der «Happy Diversity» verwiesen. So zeigen Studien, dass Diskriminierungsvorfälle an Bildungsinstitutionen, die sich als besonders divers und tolerant bezeichnen, stärker tabuisiert werden. Als Beispiel für diesen problematischen Mechanismus nennt Ivanova-Chessex die Initiative «Schule ohne Rassismus» in Deutschland. «Viele Schulen, die Teil dieser Initiative sind, engagieren sich gegen Rassismus. Und doch macht das Label es paradoxerweise schwierig, über Rassismuserfahrungen zu sprechen, weil es diese an der Schule per Definition gar nicht geben darf», so Ivanova-Chessex.
Rassismus und Diskriminierung müssen an Schulen also unbedingt Thema sein. Im Lehrplan 21 wird der Begriff Rassismus allerdings nicht verwendet. Zudem zeigen Lehrmittelanalysen, dass Rassismus in Schweizer Lehrmitteln kaum thematisiert wird und wenn, dann meist als historisches Phänomen und nicht als etwas, das in der Gegenwart von Bedeutung ist. In der Schweiz spielen hier gemäss Ivanova-Chessex ausserschulische Akteur:innen wie etwa der Verein Diversum und für das Thema engagierte Lehrpersonen eine wichtige Rolle. Diese setzen sich für eine Sensibilisierung für verschiedene Formen von Diskriminierungen an Schulen ein. «Man sieht, dass sich einige Lehrpersonen und Schulleitungen für diese Themen einsetzen, doch sie sind häufig noch auf sich alleine gestellt», so Ivanova-Chessex. Sie streicht dabei die Bedeutung von strukturellen Veränderungen auf der Schulebene heraus. So wären etwa Beschwerdestellen hilfreich, an die sich Lehrpersonen, Schüler:innen und Eltern wenden können, sowie schulische Konzepte für eine diskriminierungskritische Arbeit. Darin können etwa die Abläufe bei antisemitischen oder rassistischen Vorkommnissen festgehalten werden, oder es werden Rekrutierungsverfahren angepasst, damit gesellschaftliche Diversität im Kollegium abgebildet ist (siehe unten mit Checkliste für Schulen). Dabei kommt den ausbildenden Institutionen, aber auch den Schulleitungen gemäss Ivanova-Chessex eine wichtige Rolle zu: Sie können die Sensibilisierung für Diskriminierung an der Schule zu einem gemeinsamen Anliegen machen.
Weg vom Mittelstandsideal
Neben dieser strukturellen Ebene ist eine diskriminierungskritische Haltung der Lehrperson zentral. In der Literatur ist oft von Selbstreflexion die Rede und davon, dass sich Lehrpersonen erst einmal ihrer eigenen Position und der damit verbundenen Privilegien bewusst werden sollten. Dabei müssen Lehrpersonen wissen, dass man Vorurteile nicht ausschalten kann, sondern dass man diese nach der Formulierung des Philosophen David Bohm nur «in der Schwebe» halten kann. Das bedeutet, dass man im Schulalltag immer wieder Distanz nimmt, eigene Bewertungsmuster hinterfragt und die Konsequenzen des eigenen Handelns reflektiert: Was bedeutet es, wenn ich als Lehrperson sehr leistungsorientiert bin? Was traue ich diesem Kind zu? Aufgrund welcher Kriterien bewerte ich tatsächlich? Und wie kann ich potenzielle Nachteile ausgleichen? «Im Grunde geht es dabei um eine erhöhte Aufmerksamkeit für die Reproduktion von Ungleichheiten und das Wissen um die Machtverhältnisse, die im Schulkontext wirksam werden», sagt Ivanova-Chessex. Also darum, wie gesellschaftliche Differenzlinien den Bildungserfolg von Schüler:innen beeinflussen.
Heute stehen in der Diskussion um Diversität häufig Sprache, Herkunft und Gender als Dimensionen von Vielfalt im Fokus. Im Hinblick auf den Fachkräftemangel wird etwa darauf verwiesen, wie Bildungsbiografien von genderspezifischen Vorstellungen geprägt werden, und unlängst wurde in den Medien intensiv über den Umgang mit sexueller Diversität und Gendervielfalt an Schulen diskutiert. Eine machtvolle Differenzlinie, die den Bildungserfolg in der Schweiz entscheidend prägt, geht im Schulalltag jedoch häufig unter: die Dimension der sozialen Klasse. Darauf verweist Sonja Vukmirovic´, Dozentin für Religion, Kultur und Ethik an der PH Zürich und wie Oxana Ivanova-Chessex Mitglied der Kommission Diversity_Gender. Sie sagt: «Es braucht ein stärkeres Bewusstsein dafür, dass gesellschaftliche Diskriminierung häufig mit Klasse und damit mit der wirtschaftlichen Stellung verwoben ist.» Und sie fügt an: «Damit sind wir bei der intersektionalen Linse angekommen.» Also bei der Perspektive, die berücksichtigt, wie sich Differenzlinien wie Gender, Klasse oder race ineinander verschränken. Bei Übergängen, die zu den kritischen Momenten gehören, in denen sich gesellschaftliche Ungleichheiten reproduzieren, zeigt sich besonders gut, wie die Dimension der Klasse ins Schulfeld hineinwirkt. So spielt der familiäre Einsatz bei der Zuteilung für die nächste Stufe oft implizit eine Rolle. Dabei geht es nicht nur um finanzielle Mittel für allfällige Nachhilfestunden, sondern auch um die Frage, ob sich Eltern «souverän» für ihre Kinder einsetzen können, beispielsweise indem sie die Bildungssprache beherrschen. Solche Ungleichheiten können weitergetragen werden, wenn Eltern im Lehrpersonenteam als schwer erreichbar gelten – obwohl dahinter Schichtarbeit oder unregelmässige Arbeitszeiten stecken.
«Im Schulkontext wird häufig von der mittelständischen nicht migrantischen Schweizer Durchschnittsfamilie ausgegangen», sagt Vukmirovic´. Das zeige sich in kleinen Dingen: wenn etwa ein selbstgebackener Kuchen für den Kindergeburtstag erwartet wird und damit, dass zu Hause jemand Zeit hat, am Vorabend einen Kuchen zu backen. Oder wenn erwartet wird, dass das Kind auf der Schulreise, für welche die Lehrperson bewusst einfache Wanderrouten aussucht, «echte» Wanderschuhe trägt. Hier zeigen sich gemäss Vukmirovic´ Habitus- und Konsumvorstellungen des Mittelstandes, wobei sich diese für eine klimagerechte Nachhaltigkeit besser an ärmeren Familien orientieren sollten. Selbst die scheinbar unverfängliche Frage, was Kinder in den Ferien gemacht haben, bringt soziale Ungleichheiten zum Vorschein: «Kein Kind will, dass die ganze Klasse weiss, dass sich seine Familie keine Ferien leisten kann.»
Dieses fantasierte Ideal der mittelständischen Familie prägt das gesellschaftliche Bild der Lehrperson. «Wir haben verinnerlicht, dass eine mittelständische weisse Person, die gesellschaftliche Normen erfüllt, am ehesten Lehrperson wird», sagt Vukmirovic´. Sie spricht diesbezüglich von einem gesellschaftlichen Perfektionismus. So werde von einer Lehrperson etwa erwartet, dass sie die alten Schweizer Singlieder kenne, selbst wenn sie oder ihre Vorfahren nicht in der Schweiz sozialisiert worden seien. Oder dass eine Lehrperson Wörter wie «Tschoope» für Jackett kenne. Beides sind Dinge, die nichts mit Professionalität zu tun haben. Studien zeigen, dass Pädagogische Hochschulen unter den Hochschulen am wenigsten häufig von migrantischen Personen gewählt werden – vielleicht auch, weil es unter den Lehrpersonen an Vorbildern fehlt. Trotzdem ist bei den Studierenden der PH Zürich ein Wandel ersichtlich: Ihre Zusammensetzung ist heute diverser.
Auch die Kompetenzorientierung stellt einen wichtigen Schritt hin zu einem positiven Umgang mit Diversität dar. Mit dem formativen Beurteilen steht heute stärker das Lernen der einzelnen Schüler:innen im Fokus und weniger der soziale Vergleich. Überhaupt beinhaltet ein positiver Umgang mit Diversität, dass Lehrpersonen Räume schaffen, in denen sich die Schüler:innen selbst verorten und positionieren können. Statt Mädchen- oder Jungengruppen zu bilden, können Lehrpersonen zeigen, dass Diversität bedeutet, dass man sich nicht zwischen möglichen Identitäten entscheiden muss.
Was wird wie und wo wahrgenommen
Wie man Diversität im Unterricht thematisieren kann, ohne dass dabei gesellschaftliche Normen zum Tragen kommen, zeigt Vukmirovic´ ihren Studierenden jeweils anhand einer Übung: Gemeinsam erkundet sie mit ihnen das Quartier rund um den Campus der PH Zürich, um kulturell und religiös codierte Symbole zu entschlüsseln. Das Vorgehen ist gleich wie etwa im NMG-Unterricht: «Wir versuchen, die Welt so anzuschauen und zu erkunden, wie wenn wir Pflanzen beobachten würden.» Heisst: Alles wird erst einmal gleichwertig erfasst. Die Buddha-Statue im Fenster des Asia-Restaurants, die Regenbogenfahne und die tibetischen Gebetsfahnen, der Hahn und das Kreuz auf einer Kirche.
Zurück im Seminarraum geht es um die Frage, was, wo, wie wahrgenommen wurde. Dabei wird nicht davon ausgegangen, dass alle wissen, was das christliche Symbol bedeutet, aber vielleicht nicht, was es mit den tibetischen Gebetsfahnen auf sich hat. «So findet keine unausgesprochene Normierung statt, in der nur das vermeintlich Ferne, Andere betrachtet wird, sondern wir gehen von der Diversität von allem und allen aus.» Gleichzeitig bietet sich hier die Möglichkeit, über Machtverhältnisse nachzudenken. So diskutiert Vukmirovic´ mit ihren Studierenden Ungleichheiten, die sich in der Umgebung spiegeln, mit spezifischen Fragen: Weshalb erkennt man kirchliche Gebäude im Quartier so gut, während die Moschee kaum als solche erkennbar ist? So wird etwa durch das in der Bundesverfassung verankerte Minarettverbot deutlich, dass Religionen in der Schweiz nicht gleichgestellt sind. «Es ist wichtig, dass solche historisch und kulturell gewachsenen Machtverhältnisse im Unterricht aufgegriffen werden», sagt Vukmirovic´. Etwa indem man mit einer Klasse bespricht, weshalb an hohen christlichen Festtagen wie Ostern schulfrei ist, während für Festtage anderer Religionen eine besondere Abmeldung nötig ist. In der Übung werde Diversität lebensnah thematisiert, ohne dass dabei auf Personen im Schulzimmer verwiesen werde und sich Schüler:innen mit Fragen wie «Wie ist das bei euch zu Hause?» exponieren müssten. Sie sagt auch: «Man muss die Diversität der Kinder in der Schule nicht zu stark ins Zentrum rücken.» Das bedeute jedoch nicht, dass man sie ausblenden müsse. So hat Vukmirovic´ als Primarlehrerein mit ihren Klassen etwa Lieder in den Sprachen gesungen, die in der Klasse gesprochen werden. Und ihre Schüler:innen durften jeweils wählen, in welcher Sprache sie von der Lehrerin begrüsst werden wollten: auf Polnisch, Albanisch oder Schweizerdeutsch – unabhängig davon, welche Sprache sie zu Hause sprachen.