Literarischer Perspektivenwechsel

Mark Twain zufolge sind Klassiker Bücher, die viel gelobt, aber nicht gelesen werden. Trotz langem Haltbarkeitsdatum müssen auch diese Werke immer wieder neu aufgelegt werden, um nicht unter den Bergen der Novitäten zu versinken. Für ihre Revitalisierung sorgen nicht die Eingriffe ins Original, die es bloss dem scheinheiligen Zeitgeist unterjochen, sondern allein die aufmerksame und den historischen Kontext berücksichtigende Lektüre.

Übersetzungen und Filmadaptionen haben es da einfacher, laufen aber gleichfalls Gefahr, die Urfassung zu verbiegen. Warum nicht gleich frisch ansetzen und dem Stoff eine andere Stimme und Perspektive verpassen? Genau dies tut Percival Everett mit seinem Roman «James» (Hanser, 2024). Er lässt Mark Twains «Huckleberry Finn» durch den Sklaven Jim erzählen, erweist dem Klassiker dadurch seine literarische Reverenz und liefert uns obendrein ein sozialkritisches Korrektiv.

Ähnlich verfährt Sandra Newman, wenn sie in «Julia» (Eichborn, 2023) George Orwells immer noch brisante Dystopie «1984» aus Sicht der weiblichen Protagonistin präsentiert.

Auch Michael Morpurgos Kinderbuch schafft dieses Bravourstück. In «Toto» (Atrium, 2019) bietet er vertrautes Personal auf und lässt uns «auf vier Pfoten zum Zauberer von Oz» reisen. «Ich war dabei», beginnen Totos Erzählungen. Und das könnten James und Julia ebenso behaupten.