«Es reicht nicht, wenn Teams in Unternehmen divers sind»

«Die Nachwuchsgeneration legt sehr viel Wert auf Themen wie Diversität und Inklusion.» Nina Locher, Beraterin an der Universität St. Gallen. Foto: Nelly Rodriguez

Nina Locher arbeitet am Kompetenzzentrum für Diversity & Inclusion der Universität St. Gallen und berät Unternehmen in Fragen rund um das Thema Diversität und Inklusion. Sie erklärt, weshalb diverse Teams besser abschneiden, wie unbewusste Vorurteile bei Rekrutierungsprozessen wirken und was Unternehmen gegen diese tun können.

Wie hat sich die Bedeutung von Diversität in Schweizer Unternehmen in den letzten Jahren entwickelt?
Auf der einen Seite treiben der Fachkräftemangel und der demografische Wandel die Bemühungen um Diversität voran. Die Nachwuchsgeneration legt sehr viel Wert auf Themen wie Diversität und Inklusion, sie fordert etwa flexiblere Arbeitsmodelle, damit sich Familie und Beruf vereinbaren lassen. Das kann ein Unternehmen heute nicht mehr ignorieren. Studien zeigen auch, dass Millennials bei Bewerbungen auf die Haltung eines Unternehmens zu Diversität und Inklusion achten. Dazu kommen neue gesetzliche Vorlagen wie vorgeschriebene Lohnanalysen ab 100 Mitarbeitenden. Das Thema gewinnt also an Bedeutung. Gleichzeitig sieht man gewisse Müdigkeitserscheinungen, wir nennen das D&I-Fatigue.

Was ist darunter zu verstehen?
In den letzten Jahren wurde der Fokus stark auf Minderheitengruppen gelegt. Das können etwa LGBT+-Mitglieder, Angehörige anderer Nationalitäten oder in gewissen Kontexten auch Frauen sein, etwa wenn es um Führungspositionen geht. Nun gibt es Angehörige von «Mehrheitengruppen», die sich zunehmend benachteiligt fühlen. So kritisieren etwa manche Männer, dass der Fokus zu stark auf Frauen liegt. Da kann ein anderer Ansatz, der stärker auf die generelle Inklusion setzt, sinnvoll sein. Statt gewisse Minderheiten herauszupicken, sagt man: «Alle sollen sich zugehörig fühlen.»

Sie sprechen von unterschiedlichen Ansätzen: Wie unterscheiden sich Diversität und Inklusion voneinander?
Heute sprechen wir von DE&I, also von Diversity, Equity (Chancengerechtigkeit), und Inclusion. Lange stand Diversität im Fokus, doch dann zeigte sich, dass es nicht reicht, wenn Teams divers sind. Es müssen sich in einem Unternehmen auch alle tatsächlich zugehörig, also. inkludiert fühlen. Mit Equity geht man noch einen Schritt weiter und legt den Fokus auf strukturelle Barrieren. Es geht darum, dass sich alle inkludiert fühlen und Unternehmen gleichzeitig berücksichtigen, dass nicht alle die gleichen Voraussetzungen und Bedürfnisse haben. Das kann bedeuten, dass statt Einheitslösungen zusätzliche Angebote für benachteiligte Gruppen bereitgestellt werden – etwa eine Anpassung der Arbeitsumgebung an körperliche Beeinträchtigungen.

Welche Dimensionen von Diversität stehen bei Unternehmen heute im Fokus?
In der Schweiz steht nach wie vor häufig das Geschlecht als Dimension im Fokus, mittlerweile ist diese auch in vielen Unternehmensstrategien verankert. Andere Dimensionen wie Alter oder Nationalität werden je nach Unternehmen gezielt berücksichtigt. Was in der Schweiz häufig noch fehlt, ist die intersektionelle Perspektive, also das Zusammenspiel von sozialen Identitäten. Es braucht eine stärkere Sensibilisierung dafür, wie dadurch verschiedene Formen von Diskriminierung und Privilegien entstehen, etwa bei einer Frau, die auch Woman of Color ist.

Wieso beschäftigen sich Unternehmen mit Diversität und was bringt es ihnen tatsächlich?
Ein Unternehmen muss sich mit dem Thema auseinandersetzen, um gute Fachkräfte zu gewinnen und diese zu halten. In einem inklusiven Arbeitsumfeld ist die Fluktuation tendenziell tiefer, die Leute bleiben länger, sind zufriedener und gesünder. Ein weiterer Treiber ist der Druck der Kundschaft. Heute sind Bemühungen um Diversität ein Kriterium bei der Vergabe von Aufträgen. Neben der moralisch-ethischen Motivation, ist es am Ende auch schlicht ökonomisch sinnvoll, heterogene Teams zu beschäftigen, weil diese laut Studien bessere Entscheidungen treffen und innovativer sind.

Weshalb sind heterogene Teams besser?
Es gibt auch Bereiche, wo homogene Teams effizienter sind. Wenn es etwa um ausführende, repetitive Aufgaben geht, ist Perspektivenvielfalt nicht unbedingt hilfreich. Aber wenn es darum geht, neue Lösungen zu entwickeln und innovativ zu sein, kann man extrem von vielfältigen Perspektiven profitieren. Ein Unternehmen muss aber auch mit Vielfalt umgehen, diese im richtigen Masse zulassen und die Vorteile nutzen können. Dabei geht es auch um psychologische Sicherheit am Arbeitsplatz: Dass man sich mit seiner eigenen Persönlichkeit einbringen kann und sich in Diskussionen traut, seine eigene Meinung zu sagen. Und dass dies nicht nur akzeptiert, sondern auch erwünscht ist.

Was braucht es, damit Diversität kein Lippenbekenntnis bleibt? Und gehen Grossunternehmen und KMUs unterschiedlich mit dem Thema um?
DE&I darf nicht bloss Thema einer Fachstelle sein, es muss in der Strategie eines Unternehmens verankert sein und von der Führung vorgelebt werden. Zudem braucht es messbare Ziele wie zum Beispiel eine konkrete Erhöhung des Frauenanteils auf einer Hierarchiestufe in einer bestimmten Zeitdauer. Was nicht funktioniert, sind einzelne symbolische Events wie ein Pride-Tag. Das ist etwas Tolles, aber es braucht einen ganzheitlichen Ansatz und ein Abstimmen der verschiedenen Massnahmen, damit sich etwas tut. Grossunternehmen haben dafür natürlich mehr Ressourcen zur Verfügung: Sie können beispielsweise eine DE&I-Fachperson einstellen, die sich ausschliesslich um dieses Thema kümmert, oder Sensibilisierungsschulungen für die gesamte Belegschaft anbieten. Bei kleineren Unternehmen sind die Ressourcen begrenzter und Initiativen weniger formalisiert. Dafür sind sie flexibler, können schneller auf Veränderungen reagieren und innovativere Ansätze wie die Vier-Tage-Woche oder Lohntransparenz einfacher ausprobieren.

Im Zusammenhang mit Diversität und Inklusion fällt immer wieder der Begriff «Unconscious Bias». Was ist damit gemeint und können Sie ein Beispiel nennen, wo solche Unconscious Biases eine Rolle spielen?
Darunter versteht man unbewusste Vorurteile, die sich auf Fähigkeiten und Kompetenzen unterschiedlicher Personen oder Gruppen beziehen. So werden Männer etwa oft nach ihrem Potential und Frauen nach ihrer Leistung beurteilt. Ein weiteres Beispiel ist der Ähnlichkeits-Bias: Wir bevorzugen Personen, die uns ähnlich sind. Ich sehe etwa, dass eine Bewerberin wie ich an der HSG studiert hat und denke basierend auf dieser Information: Die ist toll. Ein Bias, der bei Rekrutierungen auch eine grosse Rolle spielt, ist der Bestätigungs-Bias der besagt, dass wir Informationen häufig so interpretieren, dass sie unsere Erwartungen erfüllen. Wenn eine Person in einem Bewerbungsgespräch mit einem Fauxpas startet, interpretiere ich alle weiteren Informationen so, dass sie diesen ersten negativen Eindruck bestätigen. Wenn jemand charismatisch ist, sehe ich im ganzen Interview alles nur noch positiv und übersehe möglicherweise relevante Dinge.

In diesem Fall geht es nicht um die bewusste Diskriminierung von bestimmten Personengruppen.
Richtig. Aber ich bin nicht mehr objektiv in meiner Auswahl und habe nicht die beste Person rekrutiert für diese Stelle. Solche Biases haben wir alle, wir müssen uns dieser aber bewusst sein. Zudem helfen auch Anpassungen in Prozessen, damit solche unbewussten Vorurteile weniger zum Tragen kommen. Bei den Bewerbungsinterviews etwa sollte man mit einem objektiven Kriterienkatalog und einem strukturierten Interviewleitfaden arbeiten und dabei die Fragen bei allen Kandidat:innen in der gleichen Reihenfolge stellen. Sonst läuft man Gefahr, dass jemand 20 Minuten über seine Erfolge spricht und jemand anders dafür am Schluss noch eine Minute Zeit hat. Das erschwert eine objektive Auswahl.

Die Diversität in Unternehmen hängt auch stark von Berufsentscheiden ab. Sie haben eine Studie dazu durchgeführt, wie man mehr Mädchen für MINT-Berufe gewinnen kann. Was sind Einflussfaktoren in Schulen?
Zwischen 11 und 16 Jahren geht das Interesse für naturwissenschaftliche Fächer zwischen den Geschlechtern auseinander. Wichtige Einflussfaktoren sind mangelnde Vorbilder für Mädchen sowie fehlendes Wissen und fehlende praktische Einblicke in MINT-Berufe. Was eine Lehrperson, eine Ärztin oder ein Arzt tut, weiss man, aber was eine Ingenieurin macht, wissen viele nicht. Da gibt es das Bild, dass man viel am Computer arbeitet und wenig Kontakt zur Aussenwelt hat. Dabei haben viele MINT-Berufe einen sozialen Aspekt, den viele Mädchen bei der Berufswahl sehr hoch gewichten. Aber auch die Ungleichbehandlung spielt in diesem Alter eine Rolle. Studien zeigen, dass Lehrpersonen sich in naturwissenschaftlichen Fächern bei Jungen mehr Zeit nehmen als bei Mädchen, um ihnen etwas zu erklären. Weil sie davon ausgehen, dass das Verständnis bei Jungen grösser ist. Vergleichbare Arbeiten von Jungen werden tendenziell besser als diejenigen von Mädchen bewertet, was ebenfalls dazu führt, dass Mädchen sich weniger zutrauen.

Was können Lehrpersonen konkret beitragen?
In einem ersten Schritt ist es wichtig, dass sie sich über die eigenen Vorurteile bewusstwerden und sensibilisiert sind. Diese Sensibilisierung muss meiner Meinung nach Teil der Ausbildung sein. Wichtig ist es auch als Vorbild zu agieren, indem man etwa eine inklusive Sprache pflegt und nicht fragt: «Wer will Arzt oder Ingenieur werden?». An den Schulen muss mehr Wissen über MINT-Berufe vermittelt werden, womit auch Vorurteile entkräftet werden können – etwa, dass es sich um gefährliche Berufe handelt. Zudem können Lehrpersonen im Unterricht verschiedene Vorbilder zeigen, damit Mädchen auch sehen: «Wow! Das ist eine Frau, die erfolgreich ist in ihrem Beruf». Eine Studie zeigt, dass die Wahrscheinlichkeit, dass Mädchen ein MINT-Studium wählen, steigt, wenn eine weibliche Wissenschaftlerin aus dem MINT-Bereich ein Jahr vor der Matura einen Schulbesuch macht. Solche Ergebnisse machen Mut, weil sie zeigen, dass es nicht immer viele Ressourcen braucht, um etwas zu bewirken.

Heute wird oft darüber diskutiert, dass Jungen durch solche Massnahmen benachteiligt werden. Besteht diese Gefahr?
Natürlich darf es nicht sein, dass man nur noch Frauenvorbilder zeigt, sondern auch einmal Frauen in MINT-Berufen. Das Ziel ist auch nicht, dass man sich nun doppelt so viel Zeit für Mädchen nimmt, sondern schlicht gleich viel Zeit. Jungen profitieren auch davon, wenn Berufe besser bekannt werden. Dabei möchte ich noch einmal auf die wichtige Rolle von Lehrpersonen hinweisen. Wir sind alle geprägt von unbewussten Vorurteilen, Erwartungen oder Interessen, die uns vom Elternhaus mitgegeben werden. Lehrpersonen können den Schüler:innen eine breitere Perspektive ermöglichen und dazu beitragen, dass sie lernen, eigene Interessen zu entwickeln und eigene Karrierewege zu entdecken.

Ãœber Nina Locher

Nina Locher (1995) ist in Volketswil aufgewachsen. Sie hat an der Universität Zürich Kommunikationswissenschaften und Betriebswirtschaftslehre studiert und an der Universität St. Gallen einen Master in Management, Organisation und Kultur absolviert. Im Studium legte sie einen Fokus auf die Themen Diversity und Inclusion und beschäftigte sich in ihrer Masterarbeit mit der Wirkung von sogenannten Unconscious-
Bias-Trainings in Unternehmen im Zusammenhang mit dem Aufstieg von Frauen in Führungspositionen.

Nach dem Studium sammelte sie in einem Pharmaunternehmen Erfahrungen im Personalbereich und wechselte dann zurück an die HSG. Seit über drei Jahren ist sie am Kompetenzzentrum für Diversity & Inclusion der Universität St. Gallen tätig, das unter anderem Unternehmen in diesem Bereich berät. Als Senior Project Manager leitet sie kundenspezifische Projekte zu Themen wie D&I-Strategieentwicklung und -Analyse, Gestaltung inklusiver HR-Prozesse, Unconscious Biases und Inclusive Leadership.

Nina Locher ist in Zürich zu Hause. Als grosse Naturliebhaberin wandert sie viel, zudem reist sie mit ihrem Partner gerne im selbst umgebauten VW-Bus.