In der Schweiz leben über 300’000 Menschen aus Ländern des ehemaligen Jugoslawiens. Viele davon haben die Kriege in den neunziger Jahren selbst miterlebt und sind deswegen geflüchtet oder haben durch Angehörige einen direkten Bezug dazu – darunter auch Jugendliche. Das Thema bietet sich deshalb geradezu an, um Zeitzeugen und -zeuginnen in den Geschichtsunterricht einzubauen. Im Rahmen ihrer Masterarbeit hat Giulia Helbling eine Unterrichtseinheit entwickelt, mit der Schüler:innen Geschichte unmittelbar und persönlich erfahren können. Gleichzeitig werden wichtige Kompetenzen gefördert wie etwa kritisches Denken und interkulturelles Verständnis.
Im theoretischen Teil dieser Literaturarbeit befasst sich die Autorin mit der Situation der exjugoslawischen Bevölkerung in der Schweiz und deren Stereotypisierung. Wie Studien zeigen, werden Menschen vom Balkan teilweise auch heute noch kollektiv als Problemgruppe wahrgenommen und negativ behaftete Begriffe wie «Jugo» oder «Balkanraser» sind weiterhin präsent. Einen längeren Abschnitt widmet die Autorin der Geschichte der Region – von der Entwicklung seit dem 19. Jahrhundert über die Entstehung der Volksrepublik Jugoslawien unter Staatschef Tito sowie deren konfliktreichem Zerfall bis zu den anhaltenden Spannungen in heutiger Zeit. In den ersten Lektionen der Unterrichtssequenz werden das Vorwissen aktiviert und Schlagzeilen aus den Medien betrachtet. Die Schülerinnen und Schüler lernen die geografische Lage der heutigen Balkanstaaten kennen und schauen einen Film über die Geschichte dieser Region. Der Tod Titos und die darauffolgenden Ereignisse werden ebenfalls mithilfe eines Films und von Texten aus dem Lehrmittel «Durch Geschichte zur Gegenwart 4» behandelt.
Für die Befragung von Zeitzeugen und -zeuginnen stehen danach zehn Lektionen zur Verfügung. In Kleingruppen suchen die Jugendlichen nach geeigneten Personen, befassen sich mit dem Kriegsverlauf im jeweiligen Herkunftsland und erstellen einen Interviewleitfaden. Nach dem Führen des Gesprächs schreiben sie die Aussagen auf, wobei sie versuchen, Beobachtungen und Interpretationen zu unterscheiden. In der anschliessenden Analyse sollen problematische Aussagen identifiziert und diskutiert werden. Nach den Präsentationen in der Klasse vergleichen die Jugendlichen die Geschichten und erkennen dabei die verschiedenen Perspektiven sowie die Kontroversität und Heterogenität dieses Themas. Zum Abschluss werden die Rolle von Nato, Uno und EU sowie die Kriegsverbrechentribunale behandelt. Die Autorin ist sich bewusst, dass die Vermittlung dieses noch nicht lange zurückliegenden Stücks Geschichte viel Fingerspitzengefühl erfordert. «Jugendliche mit Bezug zu Exjugoslawien könnten sich unwohl fühlen oder es kann zu Konflikten rund um die Schuldfragen kommen», sagt die Sekundarlehrerin, die zurzeit eine erste Klasse in Rapperswil-Jona unterrichtet. Bisher hatte sie noch keine Gelegenheit, die Unterrichtseinheit umzusetzen, plant dies jedoch fürs dritte Sekundarschuljahr.