Im Schulhaus Im Widmer in Langnau am Albis herrscht ein bunter Mix an Kulturen, Sprachen und Fähigkeiten. Um allen Kindern gerecht zu werden, bedient sich das Team diverser kreativer Ansätze. Akzente durfte in einer ersten und einer fünften Klasse im Unterricht mit dabei sein.
«Bei meiner Geburt war ich 3400 Gramm schwer. Wenn du dieses Gewicht verzehnfachst und anschliessend 1,5 kg addierst, ergibt das mein aktuelles Gewicht.» Im Kreis hat die Klasse diese Matheaufgabe besprochen und Lehrer Gian-Reto Thöny hat aufgezeigt, wie man den Lösungsweg anschaulich darstellt. Nun sitzen die Fünftklässlerinnen und -klässler des Schulhauses Im Widmer in Langnau am Albis vor ihren Heften. Während einige mit den vier Aufgaben schon fast fertig sind, wirken die anderen ratlos, haben kaum angefangen oder suchen noch immer nach ihren Schreibsachen. Der Lehrer geht von einem zum anderen und bietet Hilfe an. An einem separaten Tisch sind zwei Mädchen mit Additionen im einstelligen Zahlenbereich beschäftigt. Diese werden von Klassenassistentin Silvia Jost ermutigt und unterstützt.
Die Spannweite der Fähigkeiten in dieser Klasse ist gross. Ein Teil der Kinder verfügt über eine gute Auffassungsgabe und arbeitet schnell, viele hingegen benötigen eine enge Begleitung. Fast die Hälfte spricht von Haus aus kein Deutsch, mehrere haben ein Hyperaktivitätssyndrom, drei weitere eine Lese- oder Rechtschreibeschwäche. Ebenfalls in der Klasse sind zwei Mädchen mit einem speziellen Setting: Lia* hat Trisomie 21 und Nora* ist im Herbst aus einem südamerikanischen Land zugezogen. Sie spricht kaum Deutsch und lernt sehr langsam, weil sie gleichzeitig von einer kognitiven Beeinträchtigung betroffen ist. Sie wird derzeit schulpsychologisch abgeklärt und soll ab nächstem Schuljahr eine heilpädagogische Schule besuchen.
Diversität als Normalfall
Die gemeinsame Betreuung dieser beiden Mädchen funktioniere gut, sagt Gian-Reto Thöny. Während 15 Lektionen ist die Klassenassistentin präsent. Sie arbeitet eng mit der Heilpädagogin zusammen. «Lia ist gut integriert und hat auch Freundinnen», sagt Thöny. Sie sei eine grosse Bereicherung: «Die anderen Kinder unterstützen und motivieren sie immer wieder auf humorvolle Art.» In den wenigen Stunden, die er allein ist mit der Klasse, setzt er auf Inhalte, bei denen auch Lia und Nora mitmachen können – etwa Singen oder das Kennenlernen von Vögeln. Weil Lia nicht Velo fahren und wandern kann, fahren ihre Mutter oder die Klassenassistentin sie bei Veloausflügen oder im Klassenlager jeweils an den Zielort. «Es ist mir wichtig, dass die Klasse nicht eingeschränkt wird in ihren Aktivitäten und Lia trotzdem bei möglichst allem dabei ist», betont Thöny. An die grossen Unterschiede in der Klasse hat er sich in den zehn Jahren, die er in Langnau unterrichtet, längst gewöhnt. «Ich kenne es gar nicht anders», sagt er und lacht. Als grössere Herausforderung empfindet er die grosse Klasse mit 26 Schülerinnen und Schülern.
Der Lehrer unterrichtet nach dem sogenannten Churer Modell. Dieses eignet sich besonders gut für heterogene Klassen. Kurz zusammengefasst geht es darum, die Inputs im Klassenverband sehr kurz zu halten und die darauffolgenden Aufgaben je nach Niveau zu individualisieren. Unterstützend wirkt eine geeignete Einrichtung des Schulzimmers. In Thönys Klasse sitzen einige Kinder an einem Zweierpult, an dem sie sich austauschen können, andere an einem Einzeltisch mit Blick zur Wand, um Ablenkung zu minimieren, und andere haben sich ins Gruppenzimmer zurückgezogen. Zudem bietet der Lehrer Mathe- und Sprachübungen auf drei verschiedenen Levels an. Vor fünf Jahren hat das gesamte Team eine Weiterbildung zum Churer Modell besucht. Dennoch wendet es nur ein Teil der Lehrpersonen an. «Nicht allen liegt die gleiche Unterrichtsform», sagt Co-Schulleiterin Kamla Zogg. Zudem müssten die Methoden sowohl zur Lehrperson als auch zur Klasse passen.
Ausgezeichnet für vorbildlichen Umgang
Die Primarschule Im Widmer ist seit 2008 eine QUIMS-Schule. Das Programm «Qualität in multikulturellen Schulen» des Kantons Zürich gewährt Schulen mit vielen fremdsprachigen, zugewanderten und sozial benachteiligten Familien zusätzliche fachliche und finanzielle Mittel. 2022 hat die Fachstelle für Schulbeurteilung die Schule Im Widmer zudem für ihren vorbildlichen Umgang mit Vielfalt ausgezeichnet.
Die grosse Diversität sei anspruchsvoll, sagt Zogg. Sie erfordere gute Planung und häufige Absprachen untereinander. «Wir sind ständig am Rotieren und kommen manchmal an unsere Grenzen.» Doch insgesamt habe man ein sehr stabiles und engagiertes Team, das zudem fast zur Hälfte aus Männern bestehe. Die Stimmung auf dem Pausenplatz sei meist friedlich. «Die Chancengerechtigkeit ist uns sehr wichtig», betont Zogg. Kürzlich hat das Team im Rahmen des Schwerpunkts «Beurteilen und Fördern» eine Weiterbildung zu diesem Thema besucht. Dabei ging es unter anderem um häufige Vorurteile, die zu kontraproduktiven Handlungen führen können. Etwa wenn eine Lehrperson Schülerinnen und Schüler mit schwierigen familiären Verhältnissen schont. Die im Prinzip wohlwollende Absicht kann zur Folge haben, dass sie weniger gute Leistungen erbringen als andere. Die Schule Im Widmer ist zudem Pilotschule für das Projekt Chance P+ – eine Erweiterung des Programms Chagall (Chancengerechtigkeit durch Arbeit an der Lernlaufbahn), das sich an Jugendliche mit Migrationshintergrund richtet. Mit Chance P+ erhalten ab nächstem Schuljahr bis zu zwölf Kinder mit Potenzial für das Gymnasium oder die Sekundarstufe A Unterstützung. Sie werden jeweils am Mittwochnachmittag in Gruppen mit Coaches lernen. Derartige Angebote kann die Schule teilweise mit QUIMS-Geldern finanzieren.
«Wir führen sehr viele Elterngespräche», erklärt Zogg. Dabei gehe es oft auch um kulturelle und Erziehungsthemen. Man erkläre den Familien das schweizerische Schulsystem und lege zum Beispiel dar, dass man bei Verdacht auf Gewalt an Kindern eingreifen müsse. Körperliche Züchtigung gelte in einigen Kulturen auch heute noch als gängiges Erziehungsmittel, weiss die Schulleiterin. Es sei auch schon vorgekommen, dass eine Schülerin sich ihrer Lehrperson anvertraute, weil sie Angst vor einer Zwangsheirat hatte, wie sie es bei der Cousine erlebt hatte. Wegen derartigen Vorfällen sind Kinderrechte nun Teil des Unterrichts.
Leistungsstarke nicht vergessen
Neben den diversen Massnahmen für schwächere Kinder hat die Schule vor drei Jahren auch ihre Bemühungen für begabte und hochbegabte Kinder intensiviert. Eine Heilpädagogin hat dafür acht Wochenlektionen zur Verfügung. Sie unterstützt Kinder mit guten Leistungen integrativ, versorgt Lehrpersonen mit geeignetem Material und bietet Gruppensettings an. Diese Angebote sind ebenfalls Teil des QUIMS-Programms.
Auch in der ersten Klasse von Daniel Kühl steht an diesem Junimorgen Mathematik auf dem Stundenplan. Nach einer kurzen Erklärung im Kreis bilden die Kinder Pärchen und machen das Hüpfspiel: Sie stellen sich Rücken an Rücken, zählen auf drei und drehen sich in einem Sprung gegeneinander. Dabei strecken sie mehrere Finger heraus und zählen die Zahlen an allen vier Händen zusammen. Danach üben sie allein oder zu zweit weiter Additionen bis 20. Einige werden von den beiden Praktikantinnen aus Genf betreut, andere rechnen selbstständig, teilweise mit einem Tablet, oder sie nehmen Holzstäbe und -würfel zur Veranschaulichung der Zahlen zur Hand. Daniel Kühl sitzt an einem kleinen Tisch vorne im Zimmer, dem «Lernbüro», und arbeitet mit drei Kindern, die mehr Unterstützung benötigen. Derweil sind zwei Mädchen, die bei den Rechenaufgaben bereits sattelfest sind, mit einer besonderen Aufgabe beschäftigt: Im Gruppenraum entziffern sie einen Satz im Morsealphabet: «Wer das lesen kann, bekommt einen Lolli», buchstabiert Jasmin. Sogleich holen die beiden die Süssigkeit beim Lehrer ab. Darauf wird es noch schwieriger: Auf dem Tablet wird ein Satz im Morsealphabet vorgespielt. Um die Klasse nicht zu stören, haben sich Jasmin und Lena auf den Korridor zurückgezogen.
Heute sind nur 12 der insgesamt 20 Kinder im Schulzimmer anwesend. Einige sind krank, andere im DaZ-Unterricht (Deutsch als Zweitsprache), bei der Logopädin oder beim Heilpädagogen. Ein Junge ist heute den ganzen Morgen in der externen Förderung für Hochbegabte. Der aussergewöhnlich intelligente Schüler beherrscht bereits das Bruchrechnen. Normalerweise helfe er den anderen viel, erzählt Daniel Kühl. Es sei auch für ihn wertvoll zu sehen, dass andere mehr Mühe haben mit Aufgaben, die ihm leicht erscheinen.
Lernen mit Spielen und Apps
«Manchmal komme ich mir vor wie ein Spaziergänger mit vielen Hunden», vergleicht Daniel Kühl. Gerade in der Mathematik würden einige Kinder vorausrennen und an der Leine ziehen, weil sie etwas Interessantes witterten, während andere weiter hinten noch herumschnüffelten und dritte brav bei Fuss gingen. Deshalb hat er mit seiner Stellen- und Lebenspartnerin Kim Kühl ein System aufgebaut, nach dem jedes Kind die Themen der Mathematik in seinem eigenen Tempo durchlaufen kann. Sie lernen mit verschiedenen Spielen und Apps, unterstützen einander gegenseitig, haben kürzere oder längere Phasen im Lernbüro, und wenn sie bereit sind für den nächsten Schritt, dokumentieren sie ihren Fortschritt mit einem selbst geschriebenen Diplom. «So können auch Kinder, die aus anderen Ländern neu zu uns kommen, auf dem Level einsteigen, auf dem sie tatsächlich sind.»
Grossen Wert legen die Lehrpersonen auch auf die Reflexion über den eigenen Lernprozess. Am Ende der Lektion versammelt sich die Klasse stets nochmals im Kreis. «Wie fühlt ihr euch jetzt?», fragt der Lehrer in die Runde. Die meisten Daumen werden horizontal ausgestreckt. Nun dürfen die Kinder kleine Fotos von sich mit einem Magnet in Kreisen auf der Wandtafel platzieren. Heute steht der Umgang mit Fehlern im Fokus. Lucas sucht sein Porträt, platziert es im zweiten Kreis und sagt: «Ich konnte heute aus einem Fehler lernen.»
* Namen geändert