Schulische Sprachförderung beginnt heute nicht mit Grammatik und Rechtschreibung, sondern mit der Frage, wozu sprachliche Handlungen dienen und was sie bewirken sollen. Mit ihrem eigenen sprachlichen Handeln zeigt die Lehrperson im Schulalltag von Beginn an, was wir dank Sprache und Schrift alles erreichen.
Eine Viertklässlerin zerbricht sich über eine Deutschprüfungsaufgabe den Kopf: Wie heisst die Du-Form von «lügen» im Präteritum? «Du lügtest», «du logst» oder «du logest»? Für sie klingt alles merkwürdig. Denn sie würde ohnehin sagen: «Du hast mich angelogen.» Wie ein unregelmässiges Verb korrekt konjugiert wird, ist einfach zu vermitteln: Die Formen kann man auswendig lernen, in der Prüfung gibt es ein klares Richtig und Falsch. Und die Schüler:innen können erst noch eine gute Note erzielen, wenn sie genug geübt haben. Nur: Sind sie kompetenter im Umgang mit Sprache, wenn sie eine Verbform, die sie mit grosser Wahrscheinlichkeit nie anwenden werden, korrekt in eine Konjugationstabelle eintragen können?
Nein, sagt Johanna Bleiker, Professorin für Deutschdidaktik an der PH Zürich. Sie würde eine solche Grammatikaufgabe, der jegliche lebensweltliche Relevanz fehlt, nicht unter Sprachförderung abbuchen. «Sprachförderung setzt heute bei der Frage an, wofür wir Sprache haben und was ihre Funktion ist», sagt Bleiker und erklärt, dass Sprachförderung deshalb auch immer auf kommunikatives Handeln abziele, also auf die Tatsache, dass wir mit Sprache etwas bewirken können. Wenn Kinder lesen und schreiben lernen, sollen sie erfahren, wofür dies gut ist: nämlich um Informationen aufzunehmen, Wissen zu erlangen und weiterzugeben, Gefühle auszudrücken, selbst eine Geschichte zu lesen oder auch anderen nette oder böse Nachrichten zu schreiben. Deshalb sollen Grammatik und Rechtschreibung nicht nur isoliert trainiert, sondern möglichst oft in einen kommunikativen Zusammenhang eingebettet werden.
Diese kompetenzorientierte Sprachförderung zeigt sich auch in einer Erweiterung des Literalitätsbegriffs, der die Lese- und Schreibkompetenzen zusammenfasst. So werden Kinder und Jugendliche in der Schule heute mit vielfältigen, auch nicht-linearen Textsorten konfrontiert, und zum reinen Textverständnis ist die Ebene der Bewertung von Informationen hinzugekommen. Heute müssen Schüler:innen nicht nur den Inhalt eines Textes verstehen, sie müssen sich ebenso fragen, welche Absicht hinter einem Text steht und ob eine Quelle glaubwürdig ist. «Das ist eine neue Dimension des kompetenten Umgangs mit Sprache, der in Zeiten von Fake News und Social Media noch wichtiger geworden ist», sagt Bleiker. Zudem umfasst der Literalitätsbegriff, dass Schüler:innen verstehen, was Schrift überhaupt für eine Bedeutung hat.

Lehrperson mit Vorbildfunktion
Dieses Verständnis setzt bereits früh ein: wenn Kleinkinder sehen, wie ihre Eltern einen Einkaufszettel schreiben, damit sie im Laden noch wissen, was zu Hause fehlt. Oder wenn der Vater erklärt, weshalb er ein Post-it an die Türe der Nachbarin gehängt hat, und vorliest, was darauf steht. Auch die Lehrperson hat diesbezüglich eine wichtige Vorbildrolle: Wenn sie selbst Freude an der Sprache zeigt und einen bewussten Umgang mit Sprache pflegt, macht sie deutlich, wie wichtig Sprache ist. Sucht sie selbst einmal nach der richtigen Formulierung, kann sie dies der Klasse mitteilen, indem sie sagt: «Das habe ich nicht so gut gesagt. Gibt es dafür noch ein passenderes Wort?» Oder wenn sie Ideen aus der Klasse auf der Tafel sammelt, kann sie explizit machen, welche Funktion Schrift hier hat: dass beispielsweise keine Idee vergessen geht und man danach die besten Ideen auswählen kann.
Die Freude an der Sprache und Sprachbewusstheit können Lehrpersonen auch durch das Spiel mit unterschiedlichen Sprachregistern fördern. So können sich Jugendliche im Unterricht etwa einmal in berühmte Persönlichkeiten hineinversetzen und versuchen, wie dieser Fussballer, jene Politikerin oder jene Influencerin zu sprechen. Denn viele Jugendliche haben gemäss Bleiker ein grosses Bewusstsein für solche sprachlichen Nuancen: «Das zeigt sich beispielsweise, wenn sie ihren Eltern erklären, dass sie zu alt sind für ein bestimmtes Wort.»
Die kompetenteste Person im Raum
Hinsichtlich der Vorbildrolle der Lehrperson hat sich in den letzten Jahren einiges verändert. «Während man in pädagogisch-didaktischen Kontexten lange davon ausging, dass Lehrpersonen im Unterricht tendenziell zu viel sprechen und ihren Sprechanteil generell reduzieren sollten, wird heute vermehrt betont, dass die Lehrperson die sprachkompetenteste Person im Raum ist», sagt Bleiker. So könnten Sprachlernende durch eine gezielte sprachlich-kommunikative Unterstützung durch die Lehrperson eine nächste Stufe der Sprachentwicklung schneller erreichen, als wenn sie bloss viel Redezeit ohne Unterstützung erhielten. Es ist also nicht nur wichtig, wie die Lehrperson mit ihrer Klasse spricht, sondern ebenso, dass sie selbst genug spricht und die Kinder mit einer komplexeren Sprache konfrontiert werden als der, die sie selbst schon aktiv anwenden können.
So ist etwa der Morgenkreis, in dem alle Kinder der Reihe nach in einfachen Sätzen erzählen, was sie am Wochenende gemacht haben, nicht das ideale Format für die Förderung von Erzählkompetenz. Zwar kommt hier jedes Kind zum Sprechen, doch für sprachliche Fortschritte müsste die Lehrperson gezielte Rückfragen stellen, alternative Formulierungen vorschlagen und mit vorgegebenen Gesprächsstrukturen komplexere Sätze und ganze Zusammenhänge einfordern – was im Klassenplenum jedoch aus sozialen Gründen schwierig und wenig effektiv ist.
Stattdessen können Lehrpersonen solche Gespräche einzeln führen, während die Klasse an einer Aufgabe arbeitet, und dem Kind so mehr und vor allem seinem sprachlichen Kompetenzniveau entsprechende sprachliche Impulse geben. Oder die Gesprächsarbeit findet in niveaudurchmischten Zweiergruppen mit klarem Gesprächsgerüst statt. Denn davon profitiert nicht nur das Kind mit tieferem Sprachniveau. Die Sprachwissenschafter:innen Heiko Hausendorf und Uta Quasthoff vergleichen die Situation mit einer Wippe auf dem Spielplatz, wo stets das schwerere Kind dafür sorgen muss, dass die Wippe sich bewegt. «Auch in einem Gespräch muss die sprachkompetentere Person mehr dafür tun, dass das Gespräch weitergeht», so Bleiker.

Zwischenschritt: Mündliches Schreiben
Was Bleiker beschreibt, ist eine alltagsintegrierte Sprachförderung, die nicht nur im Deutschunterricht, sondern fächerübergreifend stattfindet und damit der Tatsache gerecht wird, dass Sprache der Schlüssel zum fachlichen Lernen ist. Denn auch in NMG oder Mathe können Kinder und Jugendliche nicht profitieren, wenn sie bei der Sprache anstehen. «Lehrpersonen müssen den sprachlichen Anteil des Unterrichts deshalb in allen Fächern mitdenken», sagt Bleiker. Das bedeutet, dass Lehrpersonen Fachbegriffe und bildungssprachliche Wendungen bewusst einführen und sich auch bei scheinbar unproblematischen Formulierungen fragen, ob diese tatsächlich selbsterklärend sind. Beispielsweise bedeutet «rund» im Alltagskontext meist etwas ganz anderes als in bildungssprachlichen Texten: So kann etwa die Formulierung «rund zwei Kilogramm Salz» zu Verwirrung führen: wenn Kinder an eine runde Form denken und sich fragen, weshalb das Kochsalz nur in quaderförmigen Verpackungen erhältlich ist.
Welches Gewicht Sprache im Fachunterricht hat, verdeutlicht eine Studie, in der Bleiker das Schreiben im naturwissenschaftlichen Unterricht untersucht. Darin zeigte sich, dass Kinder beim Notieren von Beobachtungen im naturwissenschaftlichen Unterricht oft sehr ausführlich sprachliche Fragen diskutieren: Werden Wasserfarben durch das Waschen «matter», «bleicher», «dünner» oder «weniger farbig»? «Solche Diskussionen mögen produktiv sein, wenn sie dazu führen, dass sich die Schülerinnen und Schüler interessante Überlegungen zur Sprache oder zu naturwissenschaftlichen Inhalten machen», sagt Bleiker. Oft aber würden Diskussionen zu sprachformalen Aspekten, wie Rechtschreibung und Grammatik, überproportional viel Zeit in Anspruch nehmen. Damit Schülerinnen und Schüler sich schreibend tatsächlich mit den Inhalten auseinandersetzen, sollten Lehrpersonen deshalb den Zwischenschritt der mündlichen Schreibstunde einplanen. Hier werden in Gruppen oder unter Anleitung der Lehrperson aufschreibbare Formulierungen gesucht, ausprobiert und gesammelt. Erst danach schreiben die Kinder selbst einen zusammenhängenden Text.
Die Kritik, dass Grammatik und Rechtschreibung zunehmend an Bedeutung verlören, lässt Bleiker nicht gelten. «Die ausführlichen Diskussionen vieler Kinder um die korrekte Schreibweise zeigen ja gerade, dass die Schülerinnen und Schüler sehr wohl wissen, welche Bedeutung korrektes Schreiben immer noch hat», sagt Bleiker. Sie weist darauf hin, wie wichtig eine gut ausgebildete Schreibflüssigkeit ist. So müssten Handschrift und Tastaturschreiben, aber auch Rechtschreibung und flüssiges Formulieren im Unterricht gezielt gefördert werden. «Es ist wichtig, dass Kinder flüssig von Hand schreiben oder speditiv tippen können. Wenn sie viel Aufmerksamkeit für einfachere Aufgaben aufwenden, geht dies nämlich auf Kosten von kognitiv anspruchsvolleren Aspekten wie naturwissenschaftlichen Überlegungen, dem Finden passender Formulierungen oder dem Textaufbau.»
An der gleichen Sprache arbeiten
Diese fächerübergreifende Sprachförderung ist dann besonders wirkungsvoll, wenn die beteiligten Lehrpersonen den Aufbau von bildungssprachlichen Formulierungen gemeinsam planen und fördern. Dies ist insbesondere für DaZ-Lernende entscheidend: «Schüler:innen müssen neue Strukturen und Redemittel wiederholt und möglichst zeitnah verwenden können, sonst gehen sie schnell wieder vergessen», sagt Katja Schlatter, die an der PH Zürich den CAS Deutsch als Zweitsprache verantwortet. Gemäss Schlatter müssen Sprachlernende neuen Redemitteln etwa 50-mal begegnen, diese abrufen und anwenden, um sie langfristig abzuspeichern.
Idealerweise arbeiten die Schüler:innen im DaZ-Unterricht deshalb an den gleichen Themen und damit am gleichen Wortschatz wie in der Regelklasse, wobei im DaZ-Unterricht jeweils vorbereitend gearbeitet wird. Wenn die DaZ-Lehrperson etwa ein Bilderbuch, das im Kindergarten vorgelesen und besprochen wird, schon in einer einfacheren Version entlang des roten Fadens der Geschichte erzählt, können ihre DaZ-Schüler:innen anschliessend aktiv am Regelunterricht teilnehmen und sich dadurch als selbstwirksam erleben.
Hier kommt der Schulleitung eine zentrale Rolle zu. Sie muss gewährleisten, dass an der Schule ein verbindliches DaZ-Konzept entwickelt und umgesetzt wird. Damit kann das Bewusstsein für die Bedeutung der Sprache im Unterricht geschärft werden, zudem werden darin auch geeignete Gefässe für die gemeinsame Planung und Absprache festgelegt.

«Die Schulleitung sollte sicherstellen, dass die Zusammenarbeit zwischen DaZ- und Klassenlehrpersonen umsetzbar ist», sagt Schlatter. Das bedeutet in erster Linie, dass DaZ-Unterricht nicht klassenübergreifend stattfindet und somit Kinder aus verschiedenen Klassen mit unterschiedlichen Themen in einer DaZ-Gruppe zusammenkommen. Wo dies an kleinen Schulen aus Ressourcengründen trotzdem geschieht, sollte gemäss Schlatter eine klassenübergreifende Planung angestrebt werden. Wenn die Klassenlehrpersonen eines Jahrgangs ihren Unterricht nämlich gemeinsam planen und nach Möglichkeit die gleichen Themen zur gleichen Zeit behandeln, wird ein vorbereitender DaZ-Unterricht trotzdem möglich.
Fehlender Wortschatz als grösste Schwierigkeit
Wie Schlatter erklärt, verläuft das Lernen einer Zweitsprache nicht gleich mühelos wie das Lernen einer Erstsprache. Wenn eine Person erst mit fünf Jahren oder noch später eine Zweitsprache erlernt, muss sie den gesamten Input der bisherigen Jahre in dieser Sprache innert kürzester Zeit aufholen. Die grösste Schwierigkeit für Zweitsprachlernende ist der fehlende Wortschatz, der sich sowohl beim Hör- und Leseverständnis als auch beim Sprechen und Schreiben zeigt. «Eine gut geplante, intensive Wortschatzförderung ist deshalb in jedem Unterricht unverzichtbar», sagt Schlatter und fügt an, dass es wenig hilfreich sei, wenn Wörter isoliert vermittelt würden. Denn unser Sprachwissen besteht nicht aus einzelnen Wörtern, sondern aus einem Netzwerk von häufigen Wortverbindungen, festen Wendungen und Satzmustern. Wortschatz muss deshalb immer im Kontext seiner kommunikativen Verwendung aufgebaut werden: Das geschieht etwa beim Vorlesen eines Bilderbuchs, wenn Wortschatz in einem Lesetext geklärt und vertieft wird oder indem fachspezifische Redemittel für die Teilnahme am Unterricht wiederholt eingebracht werden.
Eine Schwierigkeit beim Erwerb einer Zweitsprache liegt auch darin, dass unsere Wahrnehmung nach dem Kleinkindalter auf die sprachlichen Eigenheiten der Erstsprache spezialisiert ist. «Wenn Kinder oder Erwachsene mit einer neuen Sprache konfrontiert werden, gehen sie in einem ersten Schritt unbewusst davon aus, dass diese gleich strukturiert ist wie ihre Erstsprache», sagt Schlatter. Aspekte, die in der Erstsprache nicht relevant sind, werden in unserer Wahrnehmung blockiert. Wird in der Erstsprache beispielsweise das grammatische Geschlecht von Nomen nicht am Artikel markiert, tendieren DaZ-Lernende dazu, die Genusmarkierung am Artikel im Deutschen nicht zu beachten. Statt «der Tisch» merken sie sich nur «Tisch». Ein anderes Beispiel ist, dass DaZ-Lernende den Unterschied zwischen Lang- und Kurzvokalen, der im Deutschen entscheidend ist, ohne spezifisches Hörtraining nicht wahrnehmen, also etwa den Unterschied zwischen «Ofen» und «offen» nicht bemerken.
«Deshalb ist es wichtig, dass die Lehrperson die Aufmerksamkeit der Zweitsprachlernenden in der Kommunikation gezielt auf schwierige Elemente in der Sprache lenkt», sagt Schlatter. Bewährt hat sich korrektives Feedback, das die Schüler:innen zum Überdenken einer fehlerhaften Äusserung anregt. Verwenden Schüler:innen beispielsweise wiederholt falsche oder gar keine Präpositionen, wenn sie fragen: «Darf ich Pause gehen?» oder «Darf ich in WC?», kann sie die Lehrperson zur Selbstkorrektur auffordern, indem sie sagt: «Achtung, darf ich in die Pause gehen?»
Auf gleiche Weise können Schüler:innen dazu angeregt werden, alltagssprachliche Ausdrücke durch bildungssprachliche Formulierungen zu ersetzen – das gilt sowohl für DaZ-Lernende wie Schüler:innen mit Deutsch als Erstsprache. Wenn ein Schüler beim Beschreiben eines Experiments mit Magneten etwa sagt: «Der Pol und der Pol kommen so zusammen», statt von der Anziehung der Pole zu sprechen, kann die Lehrperson nachhaken, ob er dies noch etwas eleganter formulieren könne. Und allenfalls nachschieben: «Erinnerst du dich, wie ich mein Beispiel formuliert habe? Versuch, es gleich zu machen!»
Überhaupt gilt für Schüler:innen mit Deutsch als Erstsprache wie für solche mit Deutsch als Zweitsprache: Für eine Kompetenzerweiterung müssen sie an anspruchsvollen Aufgaben arbeiten, was auch bedeutet, dass sie im Schulalltag einer anspruchsvollen Sprache begegnen, die sie herausfordert. So formuliert Schlatter als Credo einer erfolgreichen Sprachförderung: «Viel verlangen, hoch einsteigen, aber gleichzeitig passende Unterstützung anbieten, damit möglichst alle Schülerinnen und Schüler das Ziel erreichen.»