Vor die Türe?

Anna-Tina Hess und Georg Gindely
Illustrationen: Elisabeth Moch

Anna-Tina Hess: Was für eine Dynamik eine einzige Person in einem Klassenzimmer auslösen kann, das merkt man manchmal erst, wenn diese Person fehlt. Nennen wir ihn Frodo. Frodo war an jenem Morgen beim Zahnarzt und die Klasse, welche ich kurz nach den Sportferien übernommen hatte, um für eine Kollegin einzuspringen, war wie ausgewechselt. Zahm, ruhig und produktiv. Dann kam Frodo zurück und mit ihm eine Abwärtsspirale der Unruhe, welche fast sämtliche Jungs der Klasse mitriss und auch mich etwas ins Strudeln brachte. Die Klasse erwischte mich auf dem linken Fuss, vielleicht auch, weil ich an diesem Tag bereits damit aus dem Bett geklettert war.

Später berichtete ich einem Freund davon, der ebenfalls als Lehrperson arbeitet. «Stell ihn doch einfach vor die Tür», riet er mir. «Na ja, ich finde das keine gute Idee. Ausserdem ist das ja genau das, was sie wollen, und belohnen möchte ich sie ja nicht auch noch.» «Voll chillig, dänn chasch vor d Tür», hörte ich nämlich ausgerechnet Frodo kürzlich halblaut sagen. Ich mache das ganz grundsätzlich nicht, Schüler:innen vor die Türe stellen. Das Einzige, was vor der Klassenzimmertüre stattfindet, ist die Pause oder wenn, dann ein persönliches Gespräch. Rauszitieren und unter vier Augen die Lage besprechen kann manchmal Wunder bewirken. Ein Gespräch ohne Gruppendynamik. Was vor der Klasse ausgesprochen wird, kann als Bumerang zurückkommen. Vor der Tür hingegen, da schliesst man einen Pakt, der mehr Eindruck macht. Danach reicht im Klassenzimmer meistens ein freundlicher, strenger Blick und die Sache ist geregelt.

Georg Gindely: Ich habe bis jetzt eigentlich nie Schüler:innen vor die Tür gestellt. Das hat sich in den letzten Wochen geändert. Nach den Weihnachtsferien war meine Klasse sehr unruhig. Vor allem die Jungs hatten Mühe, still zu arbeiten. Grund genug, eine Sitzung mit den anderen Lehrpersonen einzuberufen und ein gemeinsames Vorgehen auszuarbeiten. Dabei trafen zwei Haltungen aufeinander: die Vor-die-Türstell-Fraktion und die Gegnerschaft. Zur ersten Gruppe gehörten überraschenderweise unsere Schulsozialarbeiter. Ein Experte habe ihnen geraten, Störer:innen vor die Tür zu stellen. Nur für ein paar Minuten, aber das wirke Wunder. Unsere Schulleiterin war strikt dagegen. Es sei eine pädagogische Bankrotterklärung, Schüler:innen vor die Tür zu schicken. Vielmehr müsse an der eigenen Präsenz und an einem reibungslosen Unterrichtsablauf gearbeitet werden. Eine gut durchdachte Sitzordnung könne ebenfalls Wunder wirken. Ihre Argumente haben viel für sich. Wir haben uns dennoch entschieden, es auszuprobieren mit dem Vor-die-Tür-Stellen. Dabei zeigte sich: Vor die Türe will niemand. Die Schüler:innen möchten dabei sein. Rausgestellte klopften und baten, wieder reinkommen zu dürfen; einer versuchte gar, unbemerkt hinein zu robben. Die Klasse ist viel ruhiger geworden. Sie hat aber auch eine neue Sitzordnung, in der Jungs und Mädchen abwechslungsweise sitzen. Wir Lehrpersonen thematisieren das erwartete Verhalten immer wieder und ziehen an einem Strick. Vielleicht funktioniert es deshalb besser, vielleicht hat auch das Rausstellen Wirkung gezeigt. Vor die Tür stelle ich jedenfalls fast niemanden mehr.

Anna-Tina Hess und Georg Gindely studierten von 2018 bis 2022 im Quereinstieg an der PH Zürich. Zuvor waren beide als Journalisten tätig. Sie schreiben an dieser Stelle über ihre ersten Erfahrungen in der Schule und an der PH Zürich.