In den Naturwissenschaften die präzise Sprache fördern

Viele Kinder im Zürcher Schulhaus Buchwiesen sprechen unzureichend Deutsch. Eine Teamweiterbildung hat zu deutlichen Fortschritten in der Ausdrucksfähigkeit der Schüler:innen geführt, wie ein Besuch von Akzente vor Ort gezeigt hat.

Zu Beginn des Weiterbildungstages der PH Zürich analysieren die Lehrpersonen mittels verschiedener Filmausschnitte aus dem NMG-Unterricht die Sprache ihrer Schülerinnen und Schüler. Fotos: Alessandro Della Bella

«Bei der Hornhaut werden die Lichtstrahlen das erste Mal gebrochen», erklärt das Mädchen im Videoausschnitt, indem es mit dem Zeigefinger gleichzeitig der Illustration entlangfährt. «Wenn es dunkel ist, wird die Pupille weiter geöffnet, damit mehr Licht ins Auge gelangt.» Die Filmsequenz stammt aus einer fünften Klasse des Schulhauses Buchwiesen in Zürich-Seebach. Anfang April wurde sie im Rahmen der schulinternen Weiterbildung «In allen Fächern sprachbewusst fördern und beurteilen» gezeigt. Dabei handelt es sich um ein Angebot der PH Zürich für QUIMS-Schulen (Qualität in multikulturellen Schulen). Dieses Kind habe eine erstaunliche Ausdrucksfähigkeit entwickelt, stellt Dozentin Angela Brütsch anerkennend fest. «Das ist wichtig für den Bildungserfolg.»

PHZH-Dozentin Angela Brütsch gibt immer wieder Inputs zu den ausgewählten Videosequenzen.

In naturwissenschaftlichen Fächern laufe man als Lehrperson Gefahr, manchmal in die Alltagssprache zu verfallen, weiss die frühere Primarlehrerin, die kürzlich eine Masterarbeit zum Thema «Schreiben im Natur-Mensch-Gesellschaft-Unterricht» (NMG) verfasst hat. Dabei sei ein präziser, treffender Wortschatz in diesen Fächern ebenso wichtig wie in den Sprachen. Mit der Teamweiterbildung sollen die Lehrpersonen sensibilisiert werden, vermehrt treffende fachsprachliche Formulierungen zu benutzen und diese allmählich auch bei den Kindern einzufordern.

Zwei Jahre Fokus schärfen
Im Schulhaus Buchwiesen hat ein Grossteil der Kinder einen Migrationshintergrund. Viele sprechen beim Eintritt in den Kindergarten noch wenig oder gar kein Deutsch. Wie die Erhebung einer Lehrperson ergeben hat, erreichen viele Kinder die Ziele beim Sprachverständnis und Lesen in der Unter- und Mittelstufe noch nicht. «Wir haben im Unterricht schlicht zu wenig Zeit, bei den Sprachkompetenzen in die Tiefe zu gehen», sagt Schulleiterin Anna da Silva. Deshalb habe die QUIMS-Steuerungsgruppe unter ihrer Leitung beschlossen, einen verstärkten Fokus auf das Thema zu legen, und sich zu dieser Weiterbildung entschieden, die sich insgesamt über fast zwei Jahre erstreckt. «Wenn das gesamte Team mitzieht, entwickeln wir mehr Power», ergänzt ihre Stellenpartnerin Aniko Farkas. Bereits ein halbes Jahr vor dem Teamtag im April haben die beiden PHZH-Dozentinnen Angela Brütsch und Betül Usul mit der Begleitgruppe zu arbeiten begonnen. Dazu gehören vier Lehrpersonen des Kindergartens, der Unter- und Mittelstufe sowie Schulleiterin Anna da Silva. Die Lehrpersonen haben die Ansätze in ihren Klassen ausprobiert, Praxisbeispiele erarbeitet und filmisch dokumentiert.

Lernen mit Wiederholungen
Ein wichtiges Mittel, um die präzisen fachsprachlichen Begriffe zu lernen, ist die sogenannte Ohrenpolizei – oder wie es im Schulhaus Buchwiesen heisst: die Hördetektei. Dabei handelt es sich um reproduktives Sprechen: Auf spielerische Art üben die Kinder Sätze aus dem jeweiligen Themenbereich und achten dabei auf die korrekte Formulierung.

Die Schulleiterinnen Anna da Silva und Aniko Farkas haben die Weiterbildung initiiert.

Zum Themengebiet des Auges etwa hat Lehrerin Jael Tobler zehn Fragen formuliert und die Verwendung im Unterricht filmisch dokumentiert. Zum Beispiel fragt sie ihre fünfte Klasse: «Wo entsteht hinter der Netzhaut durch die Lichtstrahlen ein Bild?» Das Kind zeigt auf die Darstellung und wiederholt in seiner Antwort den Wortlaut genau: «Hier entsteht hinter der Netzhaut durch die Lichtstrahlen ein Bild.» Ist ihm ein Wort entfallen, kann es auf der Wandtafel nachschauen, wo verschiebbare Notizzettel mit den Fachbegriffen und Formulierungen angebracht sind. Hat das Kind die Aufgabe erfüllt, erhält es einen Spielstein, falls nicht, gibt es einen für den Ohrendetektiv. Später üben die Kinder die Sätze nochmals in Gruppen und spielen dabei selber Detektive. «Ich achte auch auf Kleinigkeiten wie den richtigen Artikel», erklärt Tobler. Das sei für viele zwar anspruchsvoll, aber sie wolle den Kindern vermitteln, dass es möglich sei, das zu lernen. Weiter werden die fachsprachlichen Begriffe mit Karteikarten gefestigt, welche die Kinder zu zweit oder alleine benutzen. Zudem steht eine kleine Bibliothek mit altersgemässer Literatur zum Thema bereit. Die zweite Klasse zum Beispiel bespricht gerade den Wasserkreislauf in der Natur. Ein Bild zeigt, wie die Sonne auf einen See scheint und dabei Wolken entstehen, die sich in Form von Regen oder Schnee entleeren. Bei der Beschreibung des Vorgangs sollen die Kinder die korrekten Begriffe «erwärmen», «verdampfen» und «kondensieren» richtig anwenden und auf der Darstellung zuordnen. Präzise Aussagen seien wichtig, betont Dozentin Angela Brütsch. Statt einfach zu sagen, «wenn es kalt ist, gibt es Eis», empfiehlt sie Formulierungen wie: «Bei Temperaturen unter null Grad Celsius gefriert das Wasser und es entsteht Eis.»

Basis im Kindergarten
Die Grundlage für das Erlernen einer vielfältigen Sprache wird bereits im Kindergarten gelegt, weshalb die Weiterbildung schon auf dieser Stufe ansetzt. Erste Erfahrungen damit hat Kindergartenlehrer Kayhan Meierhofer mit seiner Klasse gemacht. Die Lerneinheiten hat er in mehreren Kurzvideos aufgezeichnet, die dem Plenum nun als Anschauung dienen. Zum Beispiel lernten die Kinder die Reihenfolge der Wochentage kennen. «Wir haben das Wochentaglied zwar schon früher immer gesungen. Die Kinder kennen es gut, doch das heisst nicht automatisch, dass sie wissen, dass der Montag der erste Tag ist und nachher der Dienstag kommt», ist Meierhofer bewusst geworden. Es brauche spezifischere Übungen mit zahlreichen Wiederholungen, damit sie das wirklich verinnerlichten. Im Rahmen des Projekts hat Meierhofer auch Wert darauf gelegt, dass die Kinder einfache Strukturierungsmittel wie etwa «zuerst», «nachher», «anschliessend», «danach» verstehen – etwa anhand des Ablaufs eines typischen Kindergartenmorgens: Zuerst ist Kistli-Zeit, in der sie sich einer selbstgewählten Einzelaufgabe widmen, nachher ist Morgenkreis, anschliessend ist Spielzeit und danach gibt es Znüni.

Damit die Kinder lernten, selbstständig zu arbeiten, müssten sie auch einfache Anleitungen verstehen und ausführen können, führt Co-Weiterbildungsleiterin Betül Usul aus. Zum Beispiel holen Kindergartenkinder die Wäscheklammer mit ihrem Namen und klemmen sie beim Bild mit der gewünschten Beschäftigung hin. Dort müssen sie aber zuerst prüfen, wie viele bei dieser Aktivität mitmachen dürfen – dargestellt durch das Bild eines Zahlenwürfels. Sie zählen also, wie viele Klammern schon angebracht sind, und entscheiden, ob es für sie noch einen Platz gibt. «So legen wir bereits im Kindergarten eine stabile Grundlage für das naturwissenschaftliche Lernen und systematisches Arbeiten», erklärt Usul. Beim Reflektieren am Ende der Lektion können bereits Kindergartenkinder mit der Methode des gelenkten Sprechens ihre Sprachkompetenzen erweitern. Dieses erfolgt nach einer immer gleichen vorgegebenen Struktur: «Ich han hüt mit em Luca am Tisch gmalt», sagt etwa ein Mädchen in einem weiteren Filmbeispiel. Oder: «Ich han hüt mit de Lina verusse tschuttet.»

Technische Begriffe beim Werken
Neben den naturwissenschaftlichen Fächern bietet sich auch das Textile und Technische Gestalten (TTG) für einen Fokus auf präzise Sprache an. Für dieses Fach hat Primarlehrerin Gisela Widmer mit Unterstützung von Betül Usul eine exemplarische Unterrichtssequenz entwickelt. Mit ihrer vierten Klasse hat sie ein Holzgehäuse konstruiert, an dem die mechanischen Bewegungsgrundlagen sichtbar werden. Dreht man an einer seitlichen Kurbel, verwandelt eine sogenannte Nockenwelle im Inneren des Kastens die kreisende Bewegung in eine senkrechte Auf-und-Ab-Bewegung und bringt eine Figur auf dem Dach zum Wippen. Zum Beginn des Unterrichts repetiert Widmer die korrekten Formulierungen jedes Mal und lässt die Kinder die Funktionsweise erklären. «Der Aufwand ist nicht riesig», stellt sie fest. «Die Sprachentwicklung ist eine Investition von rund sechs Minuten wert.»

Eigene Lektionen entwickeln
Nach dem Input im Plenum teilen sich die Lehrpersonen in Gruppen der Kindergarten- und Primarstufe auf und erhalten spezifische Tipps. In Zweier- oder Dreierteams entwickeln sie anschliessend eigene Unterrichtseinheiten. Jael Tobler will mit ihrer Klasse als Nächstes das Skelett thematisieren. Dabei orientiert sie sich am Kapitel «Wie du gehst und stehst» des naturwissenschaftlichen Lehrmittels «NaTech». Zusammen mit ihrer Stellenpartnerin und der DaZ-Lehrerin sucht sie nach präzisen Formulierungen, die wichtig sind für dieses Thema – etwa «den Kopf neigen», «den Hals senkrecht halten» oder «der aufrechte Gang». Damit werden sie mindestens zehn Fragen formulieren, welche die Schülerinnen und Schüler in der Hördetektei im Frage-Antwort-Stil üben können. In den nächsten Wochen werden sämtliche Lehrpersonen den Ansatz ausprobieren und eigene Erfahrungen sammeln. Am zweiten Weiterbildungstag im Juni werden sie diese einander vorstellen und auswerten. Parallel arbeiten die Leiterinnen Angela Brütsch und Betül Usul mit der Begleitgruppe bereits weiter am Thema Beurteilen – gemäss dem Schwerpunkt «Beurteilen und Fördern mit Fokus auf Sprache», den das Volksschulamt als eine von sechs Entwicklungsmöglichkeiten vorgibt. Die erarbeiteten Ansätze werden dann an einem weiteren Teamtag im November im Plenum besprochen.

Für die Gruppenarbeiten hat sich das Team des Schulhauses Buchwiesen aufgeteilt auf Kindergarten- und Primarlehrpersonen, um möglichst stufenspezifisch arbeiten zu können.

Begleitgruppenmitglied Jael Tobler ist beeindruckt, wie viel ihre Klasse bereits von diesem Ansatz profitiert hat. Viele würden sich nun schon sehr differenziert ausdrücken, wie etwa das Mädchen, das in der Videosequenz die Funktion des Auges so gut erklärt habe, erzählt Tobler. Es sei übrigens erst vor zweieinhalb Jahren in die Schweiz gekommen.