«Ich begriff, dass ich schreiben kann, wie ich will»

Dominik Muheim ist fünffacher Schweizermeister im Poetry-Slam und Preisträger des Salzburger Stiers 2024. Sein erster Poetry-Slam hat ihn von der Vorstellung befreit, dass Literatur eine bestimmte Sprache habe. Heute gibt der ehemalige Primarlehrer seine Freude an der Alltagssprache in Schreibworkshops an Schulen weiter.

«Ich liebe das Kopfkino, das eine gut erzählte Geschichte auslösen kann.» Slam-Poet Dominik Muheim. Foto: Nelly Rodriguez

Sie benutzen Wörter wie Alltagsobjekte, die man aufs Podest stellt und zu Kunst erklärt, heisst es in einem Radiobeitrag über Sie. Wann haben Sie gemerkt, dass Ihre ziemlich alltägliche Sprache Kunst sein könnte?
Dass das überhaupt möglich ist, habe ich zum ersten Mal in der Schule bemerkt. In der Fachmittelschule hat uns der Deutschlehrer Stefanie Grob und Pedro Lenz mit ihrer Spoken-Word-Gruppe «Bern ist überall» vorgestellt. Dieser Spoken-Word-Beitrag hat mich total fasziniert. Erstens war das Mundart und zweitens eine Sprache, die ich selbst im Alltag brauche, die mir nahe war. Bis dahin habe ich immer gerne Geschichten geschrieben, aber ich dachte, dass ich in meinen Texten und Aufsätzen eine bestimmte Sprache verwenden muss, damit sie einen literarischen Wert haben. Plötzlich wurde mir bewusst, dass auch aus meiner Alltagssprache Literatur werden kann. Kurz nach dieser Lektion bin ich per Zufall an einem Slam vorbeigekommen. Da war ich 18 oder 19 und auf der Bühne standen nicht Stefanie Grob oder Pedro Lenz, sondern junge Leute wie ich. Das wollte ich sofort auch ausprobieren.

Können Sie die Regeln des Poetry-Slam kurz zusammenfassen?
Auf einer Slam-Bühne können Leute mit selbstgeschriebenen Texten auftreten. Regeln gibt es fast keine. Es dürfen keine Requisiten verwendet werden und der Vortrag sollte nicht länger als sechs Minuten dauern. Die Texte werden vom Publikum mit Notentafeln bewertet, am Ende gewinnt der Text mit der besten Bewertung. Den Wettbewerbscharakter fand ich zwar etwas überflüssig, trotzdem hat mich dieses Slam-Setting befreit. Vorher hatte ich einen ungesunden Respekt vor dem Schreiben, weil ich schlecht in Rechtschreibung war. Doch auf der Bühne war die Rechtschreibung egal. Ich begriff, dass ich schreiben kann, wie ich will. Am ersten Slam habe ich eine Geschichte über einen Wurm vorgelesen, der sich in einen Zug verliebt und am Ende von diesem überfahren wird.

Was hat Sie an diesem Geschichtenerzählen fasziniert?
Ich habe immer schon gerne Geschichten von anderen Menschen gehört. Ich liebe das Kopfkino, das eine gut erzählte Geschichte auslösen kann. Und Geschichten fördern die Empathie. Man begreift Dinge, die man vorher nicht verstanden hat, wird überrascht, erschrickt, lacht, weint vielleicht auch einmal, wird im besten Fall zum Nachdenken angeregt. Das selbst auf der Bühne mit einer Geschichte zu tun, die ich erlebt oder geschrieben habe, ist ein Abenteuer: ob das Publikum an der einen Stelle lacht oder vielleicht sogar gerührt ist, ob es in die Geschichte eintaucht.

Wer hat Ihnen in der Kindheit Geschichten erzählt?
Ganz allgemein: Ich fand es spannend, wenn meine beste Freundin erzählte, wie sie am Wochenende den Bach gestaut hat, oder wenn mein Grossvater Anekdoten über seine Kindheit in armen Verhältnissen auspackte. Ich hatte das Glück, dass wir als Familie immer zusammen abendgegessen haben. Und da war das Erzählen sehr wichtig. Wenn ich in der Schule etwas erlebt habe, egal ob positiv oder negativ, habe ich mir auf dem Nachhauseweg schon überlegt, wie ich die Geschichte humoristisch ausschmücken kann, damit meine Erzählung das kleine Publikum von drei Leuten am Tisch packt.

Bei Ihren Auftritten geht es immer noch um Alltägliches: Sie erzählen, wie Sie Autostopp machen, niemand hält an, nur Ihre Mutter textet Sie mit Whatsapp-Nachrichten voller Emojis zu. Solche Dinge erleben alle. Wie machen Sie daraus Kunst?
Am liebsten arbeite ich mit den Dingen, die auf der Hand liegen, mit kleinen alltäglichen Dramen und Beobachtungen. Ich suche Erzählungen, die immer eine zweite Ebene haben und das Publikum plötzlich auf Abwege und Abgründe zuführen. Das mag ich. Wichtig ist mir, den Humor an Orten zu finden, wo man ihn nicht unbedingt erwartet. Ich habe früh angefangen, in einem Notizheft Dialoge aufzuschreiben, die ich in öffentlichen Verkehrsmitteln höre. Da gibt es sehr schöne Geschichten oder Pointen, die man eins zu eins so auf der Bühne vorlesen kann: Als ich zum Beispiel einmal aus der Sauna rauskam, sagte jemand neben mir: «Ich fühle mich wie neugeboren.» Da merkte ich, dass neugeboren wahrscheinlich kein so entspannter Zustand ist. Solche Dinge fliegen einem im besten Fall einfach zu und man lernt mit der Zeit, genauer hinzuhören. Das ist wie ein Muskel, den man trainiert. Je mehr man hinhört und sich Geschichten dazu denkt, desto schneller macht es Klick.

Sie geben selbst Schreibworkshops, auch an der Volksschule. Wie lernen Schülerinnen und Schüler, kreativ zu schreiben?
Manche Jugendliche haben Angst vor dem weissen Blatt. Je nach Klasse treffe ich auf grosse Ängste, etwas vorzulesen. Deswegen versuche ich von Anfang an, eine lockere Stimmung zu erzeugen und die Jugendlichen abzuholen, ohne dass sie es merken. Eine Übung mache ich sehr gerne: Ich stelle einen Rucksack auf den Tisch und sage: «Schreibt sieben Dinge auf, die im Rucksack drin sind.» Dann lasse ich vorlesen und frage nach, was der Bleistift im Rucksack für eine Farbe hat. Ob mit ihm schon geschrieben wurde. Wie alt er ist, wie er heisst. Ob er Hobbys hat, eine politische Einstellung, eine Beziehung. Plötzlich entstehen im Gespräch kleine Geschichten um den Bleistift, der vielleicht schon einmal ein Burn-out hatte oder in einer toxischen Beziehung mit dem Gummi ist. Anschliessend dürfen die Jugendlichen einen Gegenstand aussuchen und aus der Sicht des Gegenstands schreiben, ohne Rücksicht auf Rechtschreibung. Wichtig ist mir, dass sie ihre Alltagssprache verwenden dürfen und auch in der Muttersprache oder einer anderen Sprache schreiben können.

Geht es darum, dass die Jugendlichen gar nicht merken, dass sie einen Text kreieren?
Genau, es geht darum, Druck abzubauen und die Hemmungen zu nehmen. Das Schreiben soll nicht im Modus Aufsatz mit Thema und zwei Stunden Zeit stattfinden, ich möchte einen spielerischen Zugang bieten. Eine Übung, bei der das immer klappt, ist automatisches Schreiben. Da darf man unzensiert drauflos schreiben, die einzige Regel ist, dass man während fünf Minuten nicht aufhört zu schreiben. Niemand muss diesen Text vorlesen, doch wenn die Jugendlichen das Geschriebene durchlesen, sagt die erste Schülerin: «Schau mal, was ich da geschrieben habe.» Und dann findet die nächste Person, sie habe etwas Merkwürdiges geschrieben, das sie auch vorlesen wolle.

Sie haben früher selbst auf der Primarstufe unterrichtet. Macht es einen Unterschied, dass Sie diese Workshops als Kabarettist Dominik Muheim leiten?
Dass ich als Slam-Poet vor der Klasse stehe und nicht als ihr Lehrer, macht schon etwas aus. Ich komme von aussen, aus dieser Bühnenwelt. Slam ist ja auch ein bisschen Rock ’n’ Roll, da wirkt das Schreiben erfrischend. Und wir können Schweizerdeutsch sprechen, wenn das alle verstehen, sind per Du. Das ist ein anderer Umgang.

In der Comedyszene gibt es auffällig viele ehemalige Lehrpersonen: Patti Basler, Dominic Deville, Peach Weber haben alle einmal unterrichtet. Wie hängen diese Berufe zusammen?
Was zu beiden Berufen offensichtlich dazugehört: Man muss gerne vor Leuten stehen. Ich höre auch immer wieder, dass in der Ausbildung am Lehrerseminar viel Wert auf kreative Fächer gelegt wurde. Bei meiner Ausbildung an der PH stand die Kreativität nicht mehr unbedingt im Zentrum. Trotzdem habe ich versucht, meine Module so zu wählen, dass ich viel Musik und Theater oder Module zur Auftrittskompetenz machen konnte. Praktisch ist auch, dass man im Lehrberuf Teilzeit arbeiten kann. Am Anfang meiner Selbstständigkeit war ich noch 40 Prozent als Primarlehrer angestellt. Ich habe sehr gerne unterrichtet, aber die Auftritte und der Schulalltag standen sich irgendwann im Weg.

Wie konnten Sie Ihre Freude an der Sprache als Lehrer für die Sprachförderung nutzen?
Ich habe mit meinen Klassen viel gesungen und selbst Lieder für die Kinder geschrieben. Wir haben Kurzfilme und Theaterstücke entwickelt, in denen die Kinder eigene Ideen einbringen konnten und auf der Bühne ihre eigenen Worte brauchen durften. Mir war es wichtig, dass sie merkten, dass ihre Kreativität viel Wert ist und sie von der Klasse und der Lehrperson ernst genommen werden. Natürlich habe ich auch immer viel vorgelesen. Da hatte ich auch noch eine Rechnung mit einem Lehrer offen: Der hat uns Fridolin vorgelesen und die Geschichte nie zu Ende erzählt. Das habe ich nachgeholt.

Über Dominik Muheim

Dominik Muheim (1992) ist in Reigoldswil (BL) aufgewachsen. Nach der Fachmittelschule studiert er an der Pädagogischen Hochschule Nordwestschweiz und arbeitet drei Jahre als Primarschullehrer.

Parallel dazu tritt er als Slam-Poet auf, ab 2016 ist er mit dem Perkussionisten und Kindergartenfreund Sanjiv Channa mit dem ersten abendfüllenden Kabarettprogramm auf Tournee, zwei weitere folgen in den nächsten Jahren. 2017 entscheidet sich Muheim für das Leben als Vollzeit-Kabarettist und freier Autor. Er wird fünfmal Poetry-Slam-Schweizermeister, publiziert mit Valerio Moser die Geschichtensammlung «Und was die Menschheit sonst noch so zu bieten hat» und auf SRF 1 erzählt er neben weiteren Schweizer Autor:innen eigene «Morgengeschichten».

2024 gewinnt er mit 31 Jahren den Salzburger Stier, den wichtigsten Kleinkunstpreis im deutschsprachigen Raum. Ab September ist er mit seinem ersten Soloprogramm «Soft Ice» unterwegs. In Tourneepausen macht Muheim gerne Veloreisen von seinem Wohnort Basel aus. Auf seiner längsten Tour hat er es bis nach Oslo und von dort zurück nach Berlin geschafft.