Ich schwebe in meinen Zwanzigern, mein Vater wurde pensioniert und meine Grossmutter bewegt sich auf die 100 zu. Leben heisst älter werden. Ist das alles?
Immer wieder ertappe ich mich, wie ich in einfachen Schwarz-Weiss-Ansichten denke. Wenn ich genauer hinschaue, erkenne ich jedoch kleine Farbflecken, die immer mehr Charakter und Einzigartigkeit aufweisen. Farben, die unmöglich in Worte zu fassen sind. Keine gleicht der anderen, auch wenn sie sich ähneln. Wer hätte gedacht, dass es so viele Abstufungen zwischen null und eins, zwischen entweder – oder, zwischen ja und nein gibt?
In meiner Kindheit verfügte ich über eine romantisierende Vorstellung von Alltag, der ich nacheiferte: tagein, tagaus dasselbe. Hinter dieser Hoffnung auf Langeweile stand der Wunsch, sich nicht jeden Tag neu erfinden zu müssen, das Bedürfnis nach Sicherheit.
Alltag ist nun mal aber keine Konstante. Alltag ist im wahrsten Sinne des Wortes eine Variable. «Der Pendler steigt jeden Morgen in den Zug.» Ein Satz, der eine Routine behauptet, aber schlicht nicht das Farbspektrum erfüllt, die solche alltäglichen Situationen jeweils einzigartig machen. Nie fühlen sie sich gleich an. Ein Tag so, der nächste gegenteilig. «Wieso? Geht es nur mir so?!», schreit das Kind in mir. «Kleines», erwidere ich, «worin liegt der Sinn des Lebens, wenn nicht im Empfinden der Lebendigkeit?»