Larissa Hauser ist Fachfrau für Gesundheitsförderung und koordiniert das kantonale Schulnetz 21 im Bereich Volksschulen. Derzeit ist sie im Rahmen der Digitalisierungsinitiative Zürich (DIZH) an der Entwicklung einer App beteiligt, die hilft, Belastungen und Ressourcen im Berufsleben zu reflektieren.
Wie definiert sich eigentlich der Begriff Gesundheit?
Eine Schule im Schulnetz 21 hat Schülerinnen und Schüler gefragt, wie sie spüren, ob ihre Lehrperson gesund ist. Antworten waren «eine Lehrperson ist gesund, wenn sie Freude hat» oder «wenn sie lacht und fröhlich ist» oder «wenn sie motiviert ist» oder «wenn sie nicht gleich wütend wird». Die Kinder stellen eine Verbindung zwischen der körperlichen und der mentalen Gesundheit ihrer Lehrperson her. In der Gesundheitsförderung orientieren wir uns stark an der WHO mit ihrem ganzheitlichen Verständnis von Gesundheit. Gesundheit wird beeinflusst durch persönliche Faktoren und das Verhalten des Menschen, genauso stark aber auch von der Umwelt und äusseren Faktoren, also den Verhältnissen.
Wie gesund sind die Lehrpersonen heute? Hat sich an diesem Umstand in den letzten Jahren etwas verändert?
Der Lehrberuf bringt auf der fachlichen wie auch auf der sozialen Ebene eine Vielzahl von Anforderungen mit sich. Die strukturellen Rahmenbedingungen der Schule mit den grossen, teils sehr heterogenen Klassen, dem Lehrpersonen- und dem Fachkräftemangel sind herausfordernd. In den letzten Jahren sind zusätzliche gesellschaftliche Belastungen hinzugekommen wie die Pandemie, der Ukraine-Krieg, der Gaza-Krieg, die auch in der Schule spürbar sind. Wir wissen aus Studien, dass sich rund 40 Prozent der Lehrpersonen ständig überfordert fühlen und an der Belastungsgrenze laufen und knapp 30 Prozent nicht richtig abschalten können. Die schwierigen Zeiten funktionieren wie ein Brennglas und die Sensibilisierung ist gestiegen, dass sich gesellschaftliche oder eben politische Konflikte auch auf dem Pausenhof abspielen.
Nebst gesellschaftlichen Herausforderungen gibt es den schulischen Alltag. Wie kann dies alles gesund bewältigt werden?
Es ist klar: Gewisse strukturelle Rahmenbedingungen müssen sich verbessern. Das ist eine politische Angelegenheit. Sich als Lehrperson täglich darüber zu ärgern, erzeugt Ohnmachtsgefühle und raubt viel Energie. Es gibt auch viele Handlungsspielräume in der Organisation und Führung einer Schule. Damit meine ich allgemein die Schulkultur, die Organisation und Zusammenarbeit in den Teams, dann aber auch Arbeitsabläufe, Pensenverteilungen, Administratives, Bauliches. Die zweite Ebene betrifft die individuelle Gesundheit der Lehrpersonen. Es ist Teil der Profession, seiner eigenen Gesundheit Sorge zu tragen und sich und sein Verhalten zu reflektieren.
Was können Lehrpersonen selbst für ihre Gesundheit tun?
Als Lehrperson ist es wichtig, die eigenen Ressourcen und Handlungsoptionen zu erkennen: Was trägt mich? Wo tanke ich Energie? Wie reguliere ich meine Emotionen in herausfordernden Situationen? Ich arbeite in einem Projekt der Digitalisierungsinitiative Zürich mit. Vier Hochschulen entwickeln zusammen ein wissenschaftsbasiertes Tool namens «Crafting Playbook». Dieses setzt bei der individuellen Handlungsfähigkeit und Gestaltungskraft von Berufstätigen an. Wir kreieren eine App mit Impulsen, sogenannten «plays», die dazu anregen, anders über die eigene Arbeit oder bestimmte Situationen nachzudenken. Man kann Strategien lernen, um Stressfaktoren zu reduzieren und in eine bessere Balance zu gelangen. Die App kann dabei helfen.
Und die Schulen? Was können sie proaktiv tun?
Eine Studie der PH Zürich untersuchte den Einfluss des Führungsverhaltens von Schulleitungen und der Zusammenarbeit im Team auf die Lehrpersonengesundheit und kam zum Schluss, dass beides ressourcenseitig sehr relevant ist. Einer der grössten Schutzfaktoren für Lehrpersonen ist die soziale Unterstützung. Es lohnt sich für Schulen immer, in die Zusammenarbeit der Teams zu investieren. Dafür zu sorgen, dass sich im Kollegium gute Beziehungen bilden können, dass es in Klassenteams Zeit und Raum für Reflexion und Feedback gibt, am besten bevor Konflikte entstehen. Ich beobachte, dass viele Schulen, die dem Schulnetz 21 beigetreten sind, bei allem, was sie tun, auch die Gesundheit in den Blick nehmen. Es entwickelt sich über die Jahre eine positive, unterstützende Kultur.
Hat die Gesundheit von Lehrpersonen Einfluss auf den Bildungserfolg?
Auch hier zeigen Studien, dass es diesen Zusammenhang eindeutig gibt. Gesunde Lehrpersonen, die sich in der Schule wohlfühlen, erreichen eine bessere Unterrichtsqualität und tragen zu einem positiven Schulklima bei. Dieses wiederum hat einen positiven Einfluss auf die Gesundheit, die Motivation, die Selbstwirksamkeitsüberzeugung und den Lernerfolg von Schüler:innen. Gleichzeitig vermindert ein positives Schulklima Dinge wie Gewalt, Suchtverhalten, Absentismus und psychische Probleme. Die Gesundheit und Zusammenarbeit von Lehr- und Fachpersonen und Schulleitungen ist das Kapital der Schulen, denn sie tragen das Ganze.
Was raten Sie Lehrpersonen, die sich überlastet oder krank fühlen?
Lehrpersonen sollten auf ihre körperlichen und emotionalen Signale achten und negative Veränderungen ernst nehmen. Es ist wichtig, rechtzeitig Massnahmen zu ergreifen, um das eigene Wohlbefinden zu erhalten. Ich empfehle, zuerst das Gespräch mit Vertrauten zu suchen, sei das mit Kolleginnen und Kollegen, mit der Schulleitung oder mit der Schulsozialarbeit. In einem ersten Schritt geht es darum, für sich persönlich die Stressfaktoren herauszuschälen. Über Gespräche, Bücher, Coachings oder allenfalls auch über die bereits erwähnte App. Und sich immer fragen: Was kann ich selbst verändern? Wo kann ich Unterstützung bekommen, damit ich nicht so allein bin? Stress hängt oft auch mit inneren Bildern oder eigenen Mustern zusammen. Die Schwierigkeit ist, erkannte Stressfaktoren im Alltag zu verändern. Oft schafft man das aber nicht allein. Fühlt sich eine Lehrperson über längere Zeit nicht gut, sollte sie sich unbedingt an eine Fachperson wenden. Eine Möglichkeit ist das kostenlose Beratungstelefon der PH Zürich.
Wird sich die Lehrpersonengesundheit stabilisieren in den kommenden Jahren?
Das ist schwierig zu sagen. Die Sensibilisierung für das Thema Gesundheit in der Gesellschaft und auch in den Schulen ist grösser geworden und der Stellenwert der Arbeit verändert sich. Vielen Leuten ist heute bewusst, dass es eine gesunde Life-Balance braucht. Trotzdem ist die Vorstellung noch stark verbreitet, dass ich als Lehrperson alles wissen und alles alleine schaffen muss. Der Lehrberuf ist jedoch heute so komplex geworden, dass er nicht mehr allein ausgeführt werden kann, es braucht die Vernetzung und die enge Zusammenarbeit mit anderen. Dazu muss sich auch am Berufsbild in den Köpfen etwas ändern. Darin sehe ich einen Schlüssel der Lehrpersonengesundheit.