Von Meistern lernen

Bei Regen in einem Teich schwimmen. (Luchterhand, 2022)

Normalerweise können wir den Autor:innen beim Schreiben nicht über die Schulter schauen. Aber hin und wieder verraten sie uns in Poetikvorlesungen, Interviews, Briefen oder nachgelassenen Notizbüchern, wie die Arbeit vonstatten ging, wo ein Schreibprojekt seinen Anfang nahm und welche künstlerischen Entscheidungen sie treffen mussten. Was wir allerdings immer bekommen, sind die fertigen Texte. Wir brauchen sie nur genau zu lesen und die richtigen Fragen zu stellen. «Wenn es eine Erzählung schafft, uns hineinzuziehen und weiterlesen zu lassen, und uns das Gefühl gibt, ernst genommen zu werden, wie macht sie das?»

Ausgehend von dieser und weiteren Fragen hat Autor und Universitätsdozent George Saunders sein Programm des genauen Lesens entwickelt. Über zwanzig Jahre hat er an der Syracuse University im Bundesstaat New York angehende Schriftsteller:innen in Creative Writing unterrichtet. Die Essenz seiner Close-Reading-Methode liegt nun unter dem Titel Bei Regen in einem Teich schwimmen (Orig. A Swim in a Pond in the Rain) als Buch vor.

Saunders nimmt darin sieben klassische Kurzgeschichten der grossen russischen Schriftsteller Anton Tschechow, Iwan Turgenjew, Leo Tolstoi und Nicolai Gogol unter die Lupe und führt uns Schritt für Schritt durch die Lektüre. Es geht darum, die «Physik des Genres» zu begreifen und herauszufinden, wie die Meister zu Werke gehen und auf welche Weise die Texte ihre einzigartige Wirkung entfalten. Ein besonderes Augenmerk legt Saunders dabei auf Figuren und Handlung, sich verändernde Leseerwartungen sowie Muster, die sorgfältig etabliert und alsdann kunstvoll variiert oder unterlaufen werden.

Bei diesen rezeptions­ästhetischen Tiefenbohrungen kommt Saunders erstaunlicherweise ohne die üblichen Begrifflichkeiten der Erzähltheorie aus. Er sei, wie er eingangs betont, kein Kritiker, kein Literaturwissenschaftler oder Experte für russische Literatur. Vielmehr geht es ihm darum, was wir beim Lesen gefühlt haben, und an welcher Stelle wir es gefühlt haben. Denn jede schlüssige Denkarbeit beginne mit einer echten Reaktion.

Überträgt man das auf das eigene Schreiben, lautet die wichtigste Frage: «Was hält einen Leser bei der Stange? Oder genauer: Was hält meinen Leser bei der Stange? (Was trägt und treibt einen Leser durch meine Prosa voran?)» Das Überarbeiten des Textes wird damit zu einer Übung in Beziehungspflege.
Der gemeinsame Spaziergang durch die meisterhaften Erzählungen ist ein besonderer Genuss und eine Leseschule obendrein. Laut Saunders sollen wir die Texte durchaus daraufhin lesen, «was wir bei ihnen klauen können». Und damit wir nach der Tiefenlektüre eine Brücke zum eigenen Schreiben schlagen, gibt er uns nicht nur Tipps auf den Weg, sondern fügt im Anhang drei handwerkliche Übungen bei.

George Saunders.
Bei Regen in einem Teich schwimmen: Von den russischen Meistern lesen, schreiben und leben lernen. Aus dem amerikanischen Englisch von Frank Heibert.
München: Luchterhand, 2022. 544 Seiten.