
Die Herausforderung einer kompetenzorientierten Beurteilungskultur lässt sich meistern: mit einem Beurteilungskonzept, der Integration von Beurteilungsanlässen in den Lehr- und Lernalltag und messbaren Lernzielen, die aus Kompetenzen abgeleitet werden.
Im Zürcher Lehrplan 21 werden die Bildungsziele für die Volksschule in Form von Kompetenzen formuliert, die zyklenübergreifend zu erwerben sind. Dadurch hat sich die Beurteilungspraxis verändert. Marcel Naas, Bereichsleiter Bildung und Erziehung auf der Sekundarstufe I an der PH Zürich, ordnet diese Neuerung ein: «Wer sich an Handlungsorientierung und Binnendifferenzierung orientierte, hat schon lange vor dem Lehrplan 21 kompetenzorientiert unterrichtet. Auch früher galt es als erstrebenswert, Schüler:innen mehr als nur Wissen beizubringen und deren individuelle Fortschritte zu beurteilen. Insofern ist es tatsächlich nur eine Akzentverschiebung, wenn im Lehrplan 21 der ‹Stoff› eine nochmals geringere Bedeutung hat, wenn also nebst dem Wissen auch dem Können und Wollen mehr Gewicht beigemessen wird.» Für die Beurteilungspraxis bedeutet dies, weniger das Faktenwissen, also das deklarative Wissen, abzufragen. Stattdessen soll das prozedurale Wissen, das in Handlungen sichtbare Können, bewertet werden. Wohl wissend, dass deklaratives Wissen Grundvoraussetzung dafür ist.
Das Noten-Dilemma
Viele Lehrpersonen hadern mit dem Dilemma, zum einen die Schüler:innen an sich selbst zu messen und individuelle Fortschritte zu beurteilen, zum anderen aber im Zeugnis eine «objektive» Note geben zu müssen. Letztere vergleicht schlussendlich trotzdem alle Schüler:innen entweder miteinander oder mit gesetzten Standards. Marcel Naas erklärt dazu: «Es geht um Bezugsnormen. Kompetenzorientiertes Beurteilen orientiert sich an der individuellen Bezugsnorm, während Schulnoten traditionellerweise mit einer kriterialen Bezugsnorm gesetzt werden, also mit für alle gleichermassen geltenden, möglichst transparenten Kriterien. Viele Lehrpersonen sind unsicher, ob nur die eigentliche Leistung am Schluss zählen soll, also ob für das Endprodukt oder die Prüfung eine abschliessende – summative – Note gesetzt wird, oder ob es erlaubt ist, auch den Prozess, der oft formativ beurteilt wird, in die Notengebung einfliessen zu lassen.» Er erwähnt auch den Rechtfertigungsdruck gegenüber den Eltern, den viele Lehrpersonen spüren: Eltern rechnen gerne mit arithmetischen Durchschnittswerten. Für Gesamtbeurteilungen, die auf der Experteneinschätzung von vielfältigen Beurteilungssituationen basieren, zeigen sie oft wenig Verständnis. «Es braucht viel Mut, eine Zeugnisnote nicht mit dem Durchschnittswert aus fünf schriftlichen Tests zu belegen, sondern auch mit Beobachtungsnotizen oder Kriterienrastern zu diversen Performanzen – mündlich, szenisch oder handwerklich», sagt Naas.
Aus Kompetenzen messbare Lernziele ableiten
Auf Kompetenz lässt sich immer nur schliessen, sicht- und bewertbar ist die Performanz. Im Unterricht geht es also darum, aus den im Lehrplan 21 umfassend beschriebenen Kompetenzen messbare Lernziele abzuleiten. So kann von der gezeigten Leistung der Schüler:innen – also der Performanz – auf ihre Kompetenz geschlossen werden. Aufgrund der Voraussetzungen der Schüler:innen leitet eine Lehrperson Lernziele ab, an denen in einer gestalteten Lernumgebung mit gezielten Aufgaben gearbeitet wird. Dabei denkt die Lehrperson auch bereits an die angestrebte Beurteilungssituation, in welcher die Schüler:innen nach dem Üben mit adaptiver Unterstützung die gewünschte Performanz zeigen können. Die Beurteilung dieser Handlung oder des Produktes führt dann entweder zu einer abschliessenden Bewertung (einer summativen Note), oder sie wirkt unterstützend für die weitere Nutzung des Lernangebots.
Auch Claudia Defila, Dozentin an der PH Zürich, befasst sich mit der Beurteilungspraxis an Schulen. «Gefragt sind Beurteilungsanlässe, die sich im dichten Berufsalltag als kontinuierlicher Bestandteil des Unterrichts gut realisieren lassen», sagt sie. «Also Aufgabenstellungen, die sich beobachten, begutachten und begleiten lassen.» So sei die Lehrperson nah am Lernen der Schüler:innen und gewinne vielfältige Eindrücke. «Gelingensvoraussetzung ist ein geeignetes Beurteilungskonzept. Dieses schafft die Voraussetzung für adaptives Fördern wie auch für verlässliche Schullaufbahnentscheide.» In der Publikation «Beurteilen konkret» gibt sie zusammen mit Urs Bisang, Dozent an der PH Zug, Tipps für die Planung und Ausarbeitung eines Beurteilungskonzepts mit vielfältigen Beurteilungsanlässen sowie Praxisbeispielen aus dem NMG-Unterricht auf der Primarstufe. «Das Beurteilen dient dem Lernen und trägt dazu bei, jede:n Schüler:in förderorientiert in der je individuellen Entwicklung zu unterstützen», sagt Defila. «Beobachten, begutachten und begleiten sind die drei zentralen Schritte eines jeden Beurteilungsgefässes.»
Beurteilung in Lehr- und Lernprozess integrieren
Marcel Naas und Claudia Defila sind sich einig: Eine kompetenzorientierte Beurteilung kann nicht auf nur einmal durchgeführten, isolierten Überprüfungsaufgaben basieren. Die Beurteilung ist in den Lehr- und Lernprozess zu integrieren. Dadurch werden im Unterricht mit Lernangeboten Beurteilungsanlässe geschaffen, die Lehrpersonen laufend bewusst beobachten und beurteilen können. Es entwickelt sich eine an den individuellen Bedürfnissen und Fortschritten der Schüler:innen orientierte Beurteilungskultur. Diese wirkt sich positiv auf die Lehr- und Lernbeziehung aus und stärkt die Motivation der Schüler:innen.