
Anna-Tina Hess: Der einstige Bestseller «Männer sind vom Mars, Frauen von der Venus» hat heute aus meiner Sicht ausgedient. Zumindest in meiner Bubble will niemand mehr in diesen doch eher simplen Stereotypen denken. In meinem Klassenzimmer gibt es allerdings sehr wohl noch zwei Planeten. Mädchen und Jungs sitzen konsequent voneinander getrennt. Eine Ankündigung, dies zu ändern, führte zu lautem Protest – bei beiden Geschlechtern.
Auch sonst treten Venus-vs.-Mars-Prinzipien deutlich zutage. Die Jungs sind laut, selbstbewusst und übernehmen entsprechend oft den Lead. Dies, obwohl zahlreiche Mädchen in der Klasse auch oder oft eher das Zeug dazu hätten, Verantwortung zu übernehmen. Sie bleiben lieber im Hintergrund, sind strebsam und eher angepasst. Bestätigt hat sich dieser Geschlechtergraben auch, als wir nach den Sommerferien zwei neue Delegierte für die Schülerinnen- und Schülerorganisation bestimmen mussten. Die beiden Jungs, die diese Aufgabe bis anhin innehatten, machten keinen wirklich guten Job. Das wurde mir heimlich von der verantwortlichen Lehrperson mitgeteilt. Ich dürfe dies aber nicht vor der Klasse aussprechen. Also liess ich sie kommentarlos wählen. Die Bisherigen sowie zwei weitere Jungs stellten sich zur Verfügung. Ich blickte zur Mädchengruppe und fragte, ob sie kein Interesse hätten. Sie verneinten. Die gewählten Jungs machten kein Geheimnis daraus, dass sie den Job deshalb wollten, weil sie dann öfter nicht im Unterricht sein müssen. Ist mein Klassenzimmer ein Spiegel der Gesellschaft oder einfach auch nur eine Bubble? Vermutlich Letzteres.
Georg Gindely: Im Klassenlager zu Beginn des zweiten Schuljahrs wanderten wir im Engadin über Gletscher, schwammen in klaren Bergseen, besuchten das luxuriöse Badrutt’s Palace Hotel in St. Moritz und die eindrückliche Rega-Basis in Samedan. Die Stimmung war gut, und die gemeinsamen Erlebnisse schweissten meine zweite Sek zusammen. Ein halbes Jahr später ist davon nur noch wenig zu spüren. Durch die Klasse geht ein tiefer Riss, und zwar zwischen Mädchen und Jungs. Der wöchentliche Klassenrat endet oft mit einem Zwangsabbruch, weil man vor lauter Geschrei nichts mehr versteht – meist zum Glück, weil auch Beleidigungen ausgetauscht werden. Die schlimmste Beleidigung für die Jungs ist übrigens das Wort «unreif». Da gehen sie sofort an die Decke. Wahrscheinlich, weil sie wissen, dass darin mehr als ein Quäntchen Wahrheit steckt. Denn im letzten halben Jahr haben sich die Unterschiede zwischen den Geschlechtern noch einmal massiv verstärkt. Vor Kurzem habe ich gelesen, dass die Mädchen den Jungs in diesem Alter bis zu zwei Jahre voraus sind. In meiner Klasse könnte man diese Untersuchung problemlos bestätigen. Die Schülerinnen sind lernwillig, leistungsstark und haben ihre Impulse mehrheitlich unter Kontrolle. Bei den Jungs ist das komplett anders. Wie darauf reagieren? Mit beständigem Ansprechen und mit Interventionen, vor allem aber mit ganz viel Geduld. Die zweite Oberstufe ist die schlimmste Zeit, das sagen alle. Doch irgendwann sind die Gehirne umgebaut. Beim einen Geschlecht leider einfach etwas später als beim anderen.