Schlechtes Gewissen

Anna-Tina Hess und Georg Gindely
Illustration: Elisabeth Moch

Anna-Tina Hess: Seit August bin nun auch ich voll eingespannt und angestellt. Ich bin Klassenlehrerin einer 2. Sek. Bereits habe ich mein erstes Zusammentreffen mit den Eltern hinter mir – an einem Infoabend im Laufbahnzentrum. Ich genoss den Abend, nur eine Tatsache, die wühlte mich auf. Kurz vor dem Abend im Laufbahnzentrum stürmte nämlich ein Heilpädagoge in mein Zimmer. «Mir müesse über e Ruben rede.»

Ruben heisst natürlich nicht Ruben, aber dass wir reden mussten, war so. «Wie erläbsch du ihn?» Ich gestand, dass Ruben auffiel. Ohne 1:1-Betreuung bewegte er sich kaum vom Fleck. Nach drei Sekunden vergass er meist bereits wieder, was er eigentlich wollte, und ständig hatte er ein Chaos. «Ig wür es Euteregespräch mache», empfahl der Heilpädagoge, als ausgerechnet Ruben zur Zimmertüre reinkam. «Vo dir heimers grad gha. Mir müesse mit dine Eutere rede», platzte der Heilpädagoge heraus und auch sein sympathisches Berndeutsch konnte nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, wie ernst es war. Das Gesicht von Ruben verabschiedete sich: «Nei sie, bitte nöd mini Elterä.» Mein Herz wurde schwer. Er tat mir leid und ich versuchte aufzufangen: «Schau, ich mache so oder so nach den Herbstferien mit allen Eltern ein Gespräch, deines ist halt einfach schon vor den Herbstferien. Ok?» Ruben war einverstanden und mein Gewissen vorerst beruhigt. Es meldete sich zurück, als ich am Infoabend ausgerechnet mit Rubens Mutter ein nettes Gespräch hatte. Ein Gespräch, bei dem ich die Tatsache, dass wir schon sehr bald etwas länger reden werden, verschwieg. An solche Aufgaben werde ich mich erst noch gewöhnen müssen.

Georg Gindely: Ich hatte auch einen Ruben (siehe Text oben von Anna-Tina Hess) in meiner ersten eigenen Klasse. Schon bald zeigte sich, dass er Schwierigkeiten hatte in der Schule. Er gab die Prüfungen nicht zurück, weigerte sich, Aufsätze zu schreiben, und hatte Mühe, bei den Mitschülern und Mitschülerinnen Anschluss zu finden. Dennoch ging es bis zum November, bis ich die Eltern informierte. Ich erinnere mich an den Kloss im Hals, den ich hatte, als ich die Einladung zum Elterngespräch verschickte. Es zeigte sich: Die Eltern hatten daheim mit Ähnlichem zu kämpfen, und wir arbeiteten gut zusammen. Dennoch fiel es mir schwer, direkt anzusprechen, dass ich eine Abklärung durch den Schulpsychologischen Dienst für angezeigt hielt. Oft redete ich um den heissen Brei herum, und wir probierten Sondersetting um Sondersetting aus. Auch darum fanden die ersten Abklärungen erst Mitte der 2. Sek statt, und erst Ende der 2. Sek hatte mein Ruben eine Diagnose. Von da an bekam er die Unterstützung, die er wirklich brauchte, und er hatte ein richtig gutes Abschlussjahr. Aber mein Abwarten und das ewige Um-den-heissen-Brei-Herumreden hatten mit dafür gesorgt, dass seine ersten zwei Oberstufenjahre für ihn der reinste Horror waren. Deshalb habe ich heute kein schlechtes Gewissen mehr, wenn mich ein Schüler oder eine Schülerin erschrocken und traurig mit grossen Augen anschaut, wenn ich ein Elterngespräch ankündige. Aus Erfahrung weiss ich nun: Der Schaden, den ich anrichte, wenn ich es nicht tue, kann gross sein – und das schlechte Gewissen bei mir am Ende riesig.

Anna-Tina Hess und Georg Gindely studierten von 2018 bis 2022 im Quereinstieg an der PH Zürich. Zuvor waren beide als Journalisten tätig. Sie schreiben an dieser Stelle über ihre ersten Erfahrungen in der Schule und an der PH Zürich.