Eveline Hasler schreibt seit vier Jahrzehnten Romane über historische Figuren, denen Unrecht angetan wurde. Die Bestseller-Autorin erzählt, wie sie bei ihrer Recherche immer wieder auf Widerstände stiess, und erklärt, weshalb das Erzählen wichtiger ist als ein Berg von Fakten.
Mit dem Buch «Anna Göldin. Letzte Hexe» über die Verurteilte des letzten Hexenprozesses in Europa haben Sie vor 40 Jahren einen Bestseller geschrieben. Wie kamen Sie dazu, historische Romane zu schreiben?
Ich habe zuerst Kinderbücher geschrieben und habe das sehr geliebt. Doch ich wusste, dass es Themen gibt, die ich Kindern nicht unterbreiten kann, die zu Erwachsenen müssen. Anna Göldin ist ein Thema aus meiner Kindheit. Ich bin in Glarus geboren, wo die letzte Frau Europas im 18. Jahrhundert von einem offiziellen Gericht von sogenannt Studierten hingerichtet wurde. Schon als Kind habe ich von dieser Hexe gehört und Kinder sind sehr wach für Hexen. An ihnen gibt es etwas nicht ganz Zivilisiertes, das sie lieben. In der 4. Primarklasse wollte ich vom Lehrer wissen, was diese Frau getan hat, dass sie in den Augen der Gesellschaft zur Hexe wurde. Doch der Lehrer ist nie auf meine Fragen eingestiegen. Er sagte, diese Geschichte sei vergangen, man könne sie vergessen. Ich spürte, dass da noch eine Rechnung offen ist.
Sie haben schon als Zehnjährige begriffen, dass dieser Frau Unrecht widerfahren war?
Sie müssen wissen, dass ich ein Scheidungskind war, vielleicht das erste Scheidungskind im Kanton Glarus. Das hat man mich spüren lassen. Die Bäckerin hob im Winter vor anderen Leuten meinen Rock hoch und sagte: «Wir wollen schauen, ob du rechte Strümpfe anhast.» Man gab mir das Gefühl, dass man sich um mich sorgen müsste, weil ich bei meinem Vater aufwuchs. Das hat mich sehr gedemütigt. Auch in der Schule war es schlimm, der Lehrer sagte vor Besuch, ich sei verwirrt, seit meine Mutter weg sei. Meine Situation war keine einfache. Das hat mich geprägt.
Sie haben immer wieder über Menschen geschrieben, die ungerecht behandelt wurden, etwa über Emily Kempin-Spyri, die erste Juristin der Schweiz. Wie kamen Sie zu Ihren Figuren?
Es war so, als hätten mir meine Protagonisten von einem unsichtbaren Ort zugewunken und mir mitgeteilt, dass sie falsch behandelt wurden. Ein Beispiel sind die sogenannten Kinderhexen im 17. Jahrhundert, denen Verbindungen mit dem Teufel nachgesagt wurden. Als Kinder durften sie nicht getötet werden, also bewahrte man sie bis zur Pubertät auf und richtete sie dann hin. «Die Vogelmacherin», in dem ich über diese Hexenkinder schreibe, ist mein schlimmstes Buch. Ich wusste von Anfang an, dass es niemand lesen will. Aber ich musste es schreiben. Ich kannte die Namen dieser Kinder, ich wusste, wie sie gestorben sind. Es wäre fast ein Verbrechen gewesen, wenn ich ihre Geschichte nicht an den Tag gebracht hätte.
Wie gehen Sie bei Ihrer Recherche vor?
Es war oft schwierig, an Unterlagen zu kommen. Ich werde ja als Pionierin für meine Arbeit bezeichnet und das ist wirklich so. Bei meiner Recherche zu Anna Göldin im Archiv in Glarus war die erste Reaktion der Archivare: «Schon wieder kommt eine Frau!» Es hatten vor mir also schon andere Frauen zu Anna Göldin recherchiert, man sagte mir sogar, man habe sie weggeschickt. Das war ein gutes Archiv, aber sie nahmen mich nicht ernst, obwohl ich Geschichte studiert hatte. Sie fanden, ich solle selbst nach den Dokumenten suchen. Man muss keine Feministin mit wehender Fahne sein, um zu begreifen, dass das nur Frauen angetan wird.
Wie kamen Sie doch zu Ihren Quellen?
Ich erklärte den Archivaren, dass ich drei Häuser vom Archiv entfernt geboren wurde, dass das Archiv für uns und unsere Vergangenheit da war. Vor allem wusste ich ganz genau, welche Dokumente ich brauchte. Das hat sie beeindruckt.
Ihre Bücher, von denen viele im 17. oder 18. Jahrhundert spielen, werden in Rezensionen als «erschreckend aktuell» bezeichnet. Schreiben Sie auch über die Vergangenheit, um etwas in der Gegenwart aufzuzeigen?
Es wäre zu einfach, das so darzustellen. Ich weiss einfach, da wehrt sich ein Sachbehalt in der Vergangenheit, der nicht totgeschwiegen werden darf. Wir müssen wissen, dass es einmal eine Zeit gab, wo Kinder getötet wurden wegen dem Vorwurf, sie seien hexisch und hätten Verkehr mit dem Teufel. Und ich habe das Know-how, um dieser Geschichte nachzugehen, kann in diese Archive. Ich gehe auch immer an die Orte meiner Geschichten und spüre dort Restbestände dieser Geschichten.
Wie müssen wir uns das vorstellen?
Als ich beispielsweise herausfand, dass der Vater von Anna Göldin für Ordnung in der Kirche von Sennwald, dem Geburtsort von Anna Göldin, sorgen musste, habe ich nachgefragt, ob mir jemand diese Kirche aufschliessen kann. Ich wusste: Das ist der alte Schlüssel, den schon dieser Vater in der Hand hatte. Manchmal packt einen so etwas. In der Kirche befand sich ein Buch, in dem sämtliche Einwohner erfasst wurden. Das war ein ekelhaftes Buch. Es hatte ein solches Timbre der Vergangenheit, dass ich fast das Gefühl hatte, da seien noch Pestflecken drin. Und da drin gab es eine Beschreibung der Frau, die zur Hexe gemacht wurde.
Sie haben sich vor allem mit Schweizer Geschichten beschäftigt. Weshalb?
Ich habe den Schweizer Bezug immer sehr bewusst gesucht. Ich bin hier geboren und kann mich nicht von meiner Tradition losmachen. Wenn es in Luzern Kinderhexen gab, möchte ich nicht über Fälle in Süddeutschland schreiben und die in Luzern auslassen. Ich will, dass man weiss, dass das auch eine Schweizer Angelegenheit ist. Interessanterweise wurde ich damals vom zuständigen Archivar in Luzern nach Konstanz geschickt mit dem Hinweis, dort habe es solche Kinderhexen gegeben. Das ist wie ein Dreckhaufen im eigenen Garten, den man unter die Erde kehrt. Die Schweiz hat auch in Bezug auf die Geschichte einen besonders starken Sauberkeitsfimmel. Dabei würden wir ja gar nichts verlieren, wenn wir auch diese Geschichten erzählen würden. Das ist Menschenzeug, das allen passiert.
Welche Reaktionen erhielten Sie auf diese Bücher, die schwierige Geschichten aus der Schweizer Geschichte erzählten?
Meine Bücher wurden gut gelesen, aber es gab immer Leute, die sagten: «Wieso musst du so grausame Sachen schreiben?» Im Glarnerland hat man mich auch lange gemieden. Ich habe drei Glarner Geschichten geschrieben, neben «Anna Göldin» «Der Riese im Baum» über einen Grossgewachsenen, der als Schauobjekt missbraucht wurde, und «Ibicaba» über die Auswanderung von armen Schweizern im 19. Jahrhundert nach Brasilien. In diesem Frühling, nach meinem 90. Geburtstag, habe ich mit dem Glarner Kulturpreis die erste Glarner Auszeichnung erhalten. Meine Töchter sagten, die Ehrung sei ihnen wie eine grosse kollektive Reinigung vorgekommen. Dass man diese Frau, die diesen schwarzen Tolggen ins Reinheft gebracht hat, ehrte und sagte: Es ist wichtig, was sie gemacht hat.
Sie haben auch als Sekundarlehrerin Geschichte unterrichtet. Was war Ihnen als Lehrerin wichtig?
Mir ging es darum, Geschichte lebendig zu machen. Ich hatte an der Universität in Fribourg einen tollen Professor, der uns Figuren wie den Bündner Freiheitskämpfer Jörg Jenatsch näherbrachte, indem er erzählte, wie dieser ins «Staubige Hüetli» in Chur ging, wie es in dieser Wirtschaft zu- und herging, wie er dort für seine Anliegen kämpfte. Geschichte wurde lebendig, weil unser Professor die Figuren platzierte, dem Mann eine Sprache gab. Das versuchte ich auch beim Unterrichten. Denn Geschichte und Geschichten gehören immer zusammen. Es ist wichtig, dass man nicht einfach Daten auflistet, sondern die Grundstimmung dieser Zeit schildern kann.
Wie sehen Sie das Verhältnis von Fakten und Fiktion?
Bei «Anna Göldin» hatte ich durch meine aufwändigen Recherchen das Gefühl, dass ich gar nicht schreiben kann vor lauter Wissen. Meine Verlegerin sagte mir: «Jetzt musst du wieder vergessen, was du weisst.» Das kam mir zynisch vor, aber sie hat den Nagel auf den Kopf getroffen. Als ich mit meiner Familie in die Ferien nach Elba fuhr und endlich ohne Bücher und Aufzeichnungen war, begann ich, innere Filme zu sehen. Mir kamen die wirklichen Gestalten entgegen auf dieser Insel. Und ich merkte, das ist nicht minder wahr, wie wenn ich die ganze Zeit mit Daten und Fakten hantiere. Es wäre so spannend, Geschichte auch so zu unterrichten, also erzählerischer. Denn man kommt auf diese Weise nicht von der Wahrheit ab.