In jüngster Zeit wird das Thema schulische Integration wieder vermehrt öffentlich diskutiert und infrage gestellt. Kai Felkendorff und André Kunz leiten an der PH Zürich das Fachteam Inklusive Bildung/Sonderpädagogik. Im Interview geben sie einen Einblick, wie die Studierenden auf die schulische Integration vorbereitet werden.
Schulische Integration und Inklusion sind vielschichtige und anspruchsvolle Prozesse. Warum?
Kai Felkendorff: Gerade im Kontext der Schule ist Behinderung etwas sehr Dynamisches und Vielfältiges. Ein Blick auf das sonderpädagogische Angebot im Kanton Zürich und die dazugehörigen Daten zeigt das klar. Wir reden hier nicht von einer einzigen Differenzdimension, auf der zwei Gruppen von Schülerinnen und Schülern in wenige Kinder «mit Behinderung» und viele «ohne Behinderung» aufgeteilt werden. Wir sprechen von vielen verschiedenen Fähigkeiten, die da «besonders» gefördert werden sollen: Es betrifft um die dreissig Prozent der Primarschüler:innen. Sie gehen in eine wöchentliche Zusatzlektion im therapeutischen Bereich oder werden während einiger Lektionen integrativ gefördert. Oder sie werden auf eine Schulinsel oder eine besondere Schule verwiesen, weil ihr Verhalten als problematisch betrachtet wird. Pädagogische, rechtliche und ethische Fragen von Inklusion und Integration stellen sich im Schulalltag viel feiner und präziser, als es in der öffentlichen Diskussion manchmal den Anschein hat. Das vermitteln wir auch den Studierenden.
Lernen Studierende, wie schulische Integration und Inklusion im Schulalltag gelingen kann?
André Kunz: Studierende lernen an der PH Zürich ein attraktives Lernangebot für Kinder und Jugendliche zu gestalten. Dieses Angebot ist in Bezug auf fachliche und überfachliche Kompetenzen herausfordernd, organisatorisch strukturiert und geprägt von einem Klima der Wertschätzung. Wichtige Voraussetzung dafür sind interessierte und verlässliche Bezugspersonen. Kinder und Jugendliche können dieses Angebot jedoch unterschiedlich gut nutzen. Inklusion einerseits und Integration andererseits ereignen sich dann, wenn Lehrpersonen das Kind als Gegenüber mit all seinen individuellen Lern- und Verhaltensvoraussetzungen in der Planung von Unterrichts- und Lernangeboten sowie den spezifischen Fördermassnahmen mitberücksichtigen. Dabei werden auch individuelle Lernwege möglich und unnötige Hürden im Lernprozess beseitigt.
Kai Felkendorff: Genau. Die Studierenden lernen auch, dass es um Rechte geht, die alle Kinder haben. Das bedeutet nicht, dass Inklusion immer optimal laufen muss oder dass die Rechte verschiedener Kinder, auch verschieden behinderter Kinder, nicht auch in Konflikt miteinander geraten könnten. Es bedeutet aber, dass die Öffentlichkeit der Schule eine Verpflichtung übertragen hat, die Würde und den Bildungsanspruch jedes einzelnen Kindes zu wahren. Das Recht, zunächst einmal als Gleiche oder Gleicher dazuzugehören zur lokalen Schulgemeinschaft, kann nur unter strengsten Voraussetzungen und nur temporär eingeschränkt werden. Wie andere Menschenrechte auch.
Welche Lehrformate thematisieren schulische Integration?
André Kunz: Module zu inklusiver Bildung sind stufenspezifisch organisiert und unterteilen sich in obligatorische Module eher zu Beginn des Studiums und Wahlmodule in dessen späterem Verlauf. Die Module finden als Seminarveranstaltungen statt mit Dozierenden aus dem Fachteam Inklusive Bildung/Sonderpädagogik – so haben Diskussionen ihren Platz. Einerseits werden Inhalte vermittelt, also Wissen. Andererseits werden Erfahrungen aus den Praktika reflektiert und vertieft, also das Können. Ein wichtiges Element im Grundmodul Inklusive Bildung ist die Möglichkeit, mit Menschen, die von Behinderung betroffen sind, über Integration und Inklusion zu sprechen sowie Fragen zu stellen. Dabei wird schnell klar, dass Menschen mit einer Behinderung selber Expert:in sind für die Unterstützung, die sie brauchen. Man muss nur fragen. Konkrete Unterstützungsmöglichkeiten werden so klar, lebendig und begreifbar.
Kai Felkendorff: Auch in Modulen, auf denen nichts von Inklusion steht, lernen Studierende viel zum Thema. So zum Beispiel in Modulen zu scheinbar ganz anderen Thematiken wie Berufswahl, Schulrecht oder Schule, Bildung und Gesellschaft. Da geht es immer wieder auch um dis/ability. Und zwar nicht nur, weil es sich gar nicht vermeiden lässt. Sondern auch, weil beispielsweise Disziplinarmassnahmen, rechtliche Verpflichtungen der Lehrperson oder das Kindesschutzrecht – sie alle dienen auch dazu, Rechte vulnerabler Kinder abzusichern – für die Studierenden höchst spannende Lerngegenstände sind.
Erhalten die Studierenden in diesen Modulen einen Orientierungsrahmen für die Praxis?
André Kunz: Beim Abschluss des Studiums kennen die Studierenden den aktuellen Forschungsstand zu wirksamen Methoden der Unterstützung von Lernprozessen bei Kindern, zu besonderen Lern- und Verhaltensvoraussetzungen und besonderen pädagogischen Bedürfnissen. Thema sind zentrale Begriffe wie Inklusion, Integration, Heterogenität, Differenzdimensionen, das bio-psychosoziale Modell der «Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit bei Kindern und Jugendlichen» der WHO (ICF-CY) und die Rollenklärung für eine wirksame Mitarbeit in multiprofessionellen Teams. Der letzte Punkt ist insbesondere wichtig beim Kennenlernen des sonderpädagogischen Angebots im Kanton Zürich und des Angebots externer Fachstellen und Dienste im Umkreis der Schule. Die Studierenden lernen, dass sie nicht allein zuständig sind für Kinder mit besonderen pädagogischen Bedürfnissen. Die Schulen selber sind bereits organisiert.
Auf der Sekundarstufe I gibt es seit einiger Zeit den Wahlbereich Sonderpädagogik. Warum?
André Kunz: Den Wahlbereich Sonderpädagogik – Sprache, Mathematik, Diagnostik & Förderplanung, Verhalten – bieten wir in Zusammenarbeit mit der Hochschule für Heilpädagogik (HfH) an. Erworbene Studienleistungen können an ein Masterstudium in Schulischer Heilpädagogik (SHP) an der HfH angerechnet werden. Ziel ist eine höhere Zahl von Sekundarlehrpersonen mit einem Master SHP.
Was ist euer zentrales Anliegen im Kontext schulischer Integration?
André Kunz: Mir ist wichtig, dass die Studierenden Ideen entwickeln, wie sie die Lernsituation eines Kindes lernförderlich gestalten können. Die Aussage des polnischen Pädagogen Janusz Korczak «Das Kind hat ein Recht auf den heutigen Tag» bezeichnet sehr treffend, dass der Moment wichtig ist, in welchem die Lehrperson und das Kind gemeinsam lernen. Diesen Moment mitzugestalten, ist eine wichtige Aufgabe.
Kai Felkendorff: Mir ist diese Fallorientierung besonders wichtig. Alle Fragen zur Inklusion, die in der Öffentlichkeit oft sehr verallgemeinernd und mit grosser Geste verhandelt werden, kommen aus Sicht einer Lehrerin oder eines Lehrers erst im Einzelfall zur Geltung. Genau das macht pädagogische Professionalität aus.