Geschichtslehrer Philipp Metz will seine Schüler:innen in ihrer Lebenswelt abholen. Beim Thema Rassismus ist ihm das bestens gelungen, wie ein Besuch in seiner 3. Sekundarklasse im Stadtzürcher Schulhaus Aemtler zeigt.
Wie sagt ihr dieser Süssigkeit? Die Frage stellt Sekundarlehrer Philipp Metz zu Beginn der Geschichtsstunde und projiziert ein Bild mit den bekannten schokoladeüberzogenen Schaumbeulen in goldener Folie. «Schokoküsse», schlägt Yannik vor. Weitere Ideen sind Schaumküsse oder Schokoköpfe. «Es gibt genügend Alternativen», stellt der Lehrer fest. «Das M-Wort ist verzichtbar.»
Die 3. Sekundarklasse des Zürcher Aemtler-Schulhauses befasst sich an diesem Septembertag mit Imperialismus, Nationalismus und Rassismus. Das Thema biete sich geradezu an, um die Jugendlichen bei ihren eigenen Erfahrungen abzuholen, sagt Philipp Metz. Ihm ist es wichtig, das Fach mit möglichst viel Bezug zu ihrer Lebenswelt und gesellschaftlichen Aktualitäten zu unterrichten. «Mein höchstes Ziel ist es, dass die Schüler:innen den Wert der Demokratie erkennen und zu mündigen Bürger:innen werden.» In einer früheren Lektion haben sich die Schüler:innen bereits mit der Konnotation des sogenannten N-Worts auseinandergesetzt und gelernt, warum es heute ein No-Go ist. Nun lesen sie die Ausführungen zum Wort «Mohrenkopf» im abgegebenen Dossier. Dabei erfahren sie, dass der Begriff Mohr auf das griechische Wort «moros» zurückgeht, das töricht, einfältig, dumm oder gottlos bedeute, sowie auf das lateinische «maurus» für schwarz, dunkel oder afrikanisch.
Als Nächstes schaut die Klasse einen Filmausschnitt, in dem sich der Chef des Süsswarenherstellers Dubler für die Beibehaltung der Bezeichnung «Mohrenkopf» rechtfertigt. In einem zweiten Beitrag erklärt ein schwarzer Mann, wieso bei ihm ein schlechtes Gefühl aufkommt, wenn er den Begriff hört. Er sei häufig damit beleidigt worden, zum Beispiel auf dem Fussballplatz.
Lili ist empört über die Sturheit des Dubler-Chefs. «Es ist krass, dass er nicht zu einem Kompromiss bereit ist», findet die Schülerin. Auch Leandro hat den umstrittenen Begriff als Kind ganz selbstverständlich verwendet. Seit ihn die Eltern über die tiefere Bedeutung aufgeklärt haben, spricht er aber lieber von Schokoküssen. Nicht ganz so schlimm findet Maria die herkömmliche Bezeichnung. «Der Name ist halt eine Gewohnheit», sagt die 14-Jährige, die einen Vater aus Uganda und eine Mutter aus Deutschland hat. «Die Leute meinen es nicht böse.» Sie selber sei nie mit diesem Wort beleidigt worden. Und sie habe die Süssigkeit sowieso nicht gern. Besser fände sie es jedoch, wenn das Wort etwas anders geschrieben würde – zum Beispiel mit drei o. Die Abstimmung in der Klasse zum Schluss der Diskussion fällt deutlich aus: Die grosse Mehrheit ist für eine Namensänderung. Im zweiten Teil der Lektion geht es um die Inschriften an Häusern in der Zürcher Altstadt: «Zum Mohrentanz» und «Zum Mohrenkopf». Die Klasse liest Zeitungsartikel zur Debatte, ob die Verzierungen diskriminierend seien und ob sie abgedeckt oder nur mit einer Infotafel kontextualisiert werden sollten. Diese Diskussion führen sie darauf selber mit der digitalen Pinnwand Padlet. Nach dem Scannen eines QR-Codes posten sie ihre Meinungen per Smartphone. Durch diese stille, anonyme Form würden sich mehr Schüler:innen trauen, sich zu äussern, erklärt der Lehrer. Gleichzeitig müsse er selber aber sehr aufmerksam sein, um allenfalls unpassende Kommentare schnell löschen zu können. Philipp Metz ist sich bewusst, dass es sich um eine äusserst heikle Diskussion handelt. «Ich habe mir lange überlegt, ob und wie ich das Thema Rassismus aufgreifen soll.» Die Behandlung in der Klasse sollte keinesfalls dazu führen, dass rassistische Stereotypisierungen gefördert werden, sondern im Gegenteil für den Rassismus im Alltag sensibilisieren. Die Schüleri:nnen in diesem gesellschaftlich stark durchmischten Quartier würden nämlich meist sehr offen, tolerant und anständig miteinander umgehen, beobachtet Metz.
Er selber habe den Geschichtsunterricht in der Schule ziemlich monoton erlebt, sagt der 32-Jährige, der das Studium an der PH Zürich vor fünf Jahren abgeschlossen hat. Man habe den Stoffplan abgearbeitet und viel auswendig gelernt. Heute dagegen gehe es mehr darum, Zusammenhänge zu vermitteln und unterschiedliche Quellen zu untersuchen. «Mein Unterricht soll die Gegenwart mit einem Blick in die Vergangenheit erschliessen.» Derartige Bezüge herzustellen, gelinge natürlich nicht bei sämtlichen Inhalten des Lehrplans gleichermassen. Doch gerade in Zürich seien zahlreiche Ansatzpunkte vorhanden. Mit einer früheren Klasse hat er zum Beispiel die Stolpersteine in den Kreisen 3 und 4 besucht. Sie erinnern an jüdische Personen, die dort wohnten und im Holocaust ermordet wurden. Und demnächst will Metz mit den Jugendlichen die Wandmalereien im nahen Bahnhof Wiedikon besichtigen. Sie zeigen eine über hundertjährige Werbung des Warenhauses Jelmoli mit klischiert dargestellten Personen aus kolonialisierten Ländern.
Mit dem Kolonialismus hat sich die Klasse bereits in der Morgenlektion anhand des Comics «Tim und Struppi im Kongo» befasst. Der 1930 entstandene Band wurde erst vor vier Jahren wieder neu aufgelegt. Tim werde darin aufrecht und selbstbewusst dargestellt, beobachtet Luan. «Er hat neu aussehende Kleider an und befiehlt den Einheimischen.» Derweil würden die Kongolesen unschlüssig und verschlossen wirken. Ihre Kleidung sei primitiv und kaputt. Eine Schülerin erinnern die gezeichneten Afrikanerinnen und Afrikaner mit den riesigen hellen Lippen gar an Affen. Nun spielt der Lehrer einen Radiobeitrag ein, in dem die Hintergründe erklärt werden. Demnach liess sich der Zeichner Hergé nämlich vom Afrikamuseum in der Nähe von Brüssel inspirieren. Dieses hatte die Aufgabe, Belgiens brutales Vorgehen in den kolonialisierten Ländern in ein positives Licht zu rücken. Dem Verlag wird jedoch angekreidet, dass er die Neuauflage ohne Vorwort herausgibt, das den Kontext des Originals erklären könnte. Der Nutzen einer derartigen Kontextualisierung wird danach in Zweierteams diskutiert. «Ein Vorwort macht die Sache nicht besser», ist Max dezidiert der Ansicht. «Das wäre nur heuchlerisch.» Lili ist gleicher Meinung: «Viele würden das Vorwort wohl gar nicht lesen. Das bringt nichts.» Und Maria findet es grundsätzlich problematisch, dass das Buch überhaupt wieder neu aufgelegt wird. «Wenn kleine Kinder das lesen, werden sie rassistisch beeinflusst.»
Lehrer Philipp Metz freut sich, dass sich die Schüler:innen unabhängig von ihrem Leistungsniveau so gut abholen lassen mit aktuellen Themen, mit denen sie auch ausserhalb des Unterrichts konfrontiert sind. Die Heterogenität in der Klasse sei nämlich gross. Dies hat auch mit dem integrativen Modell in der Stadt Zürich zu tun, das nur in die beiden Sekundarstufen A und B unterteilt. Sehr hilfreich für einen lebendigen Unterricht findet er das neue Lehrmittel «Gesellschaft im Wandel». Das Werk mit den sorgfältig formulierten Texten und prägnanten Illustrationen sei sehr gelungen, findet Metz – insbesondere, da die Überarbeitung und Neugestaltung von Lehrmitteln stets eine langwierige Angelegenheit sei. In der Regel entstehen sie im Rahmen von Aushandlungsprozessen, bei denen sich verschiedene Interessengruppen einbringen.
Im Rahmen seiner Masterarbeit hat sich Philipp Metz intensiv mit Lehrmitteln für den Geschichtsunterricht befasst. Er untersuchte, wie der Erste Weltkrieg zwischen 1926 und 1966 in sieben Geschichtsbüchern des Kantons Zürich dargestellt wurde. Unter anderem kam er zum Schluss, dass die Neutralität darin mythenhaft vermittelt wird und als einfache Erklärung für komplexe Problemsituationen diente. Seine vertiefte Auseinandersetzung mit derartigen Themen wird Metz demnächst auch im Forschungsprojekt «Learning the Invisible History of Europe through Material Culture» (Lethe) der PH Zürich einbringen. Dieses will bisher wenig beachtete Gruppierungen der europäischen Geschichte, die unsere heutige multikulturelle Identität geprägt haben, besser sichtbar machen – zum Beispiel Frauen, Kinder, Migrant:innen und andere Minderheiten. Dabei arbeitet die PH Zürich eng mit diversen anderen europäischen Hochschulen zusammen.
Offen ist Philipp Metz auch gegenüber neuen Möglichkeiten der Geschichtsvermittlung, welche die Digitalisierung bietet. So experimentiert er zum Beispiel gerade mit einer App, auf der man sich über einen Chatbot virtuell mit der Physikerin Marie Curie unterhalten kann, die vor hundert Jahren gelebt hat. Gespannt ist er auch auf den Einzug von VR-Brillen in den Unterricht. Damit kann man sich vom Schulzimmer aus in geschichtliche Räume versetzen – etwa ins Mittelalter oder die Antike – und diese realitätsnah erleben. Im Aemtler-Schulhaus dagegen geht es gerade sehr real und sinnlich zu und her. Zum Abschluss der Lektion spendiert der Lehrer nämlich einige Packungen Süssigkeiten aus dem Coop mit der politisch korrekten Aufschrift Schokoköpfli-Mix. So erfahren die Schüler:innen unmittelbar, was gesellschaftliche Debatten bewirken können.