Anna-Tina Hess: Als Vikarin ist die grösste Herausforderung eine Kombination aus mangelnder Konstanz und fehlender Beziehung. Noch anspruchsvoller wird es, wenn das Vikariat in einer dritten Sek ist, man nicht das eigene Fach unterrichtet und das Ganze auch noch kurz vor den Sommerferien stattfindet. Die Motivation dieser Schülerinnen und Schüler ist ungefähr so tief wie der Zürichsee an seiner tiefsten Stelle.
So eine Klasse hatte ich vor mir. Eine 3B. Englischlektion. Ich merkte bereits nach der Pause, dass die Unruhe gross und der Leistungswille klein war. Ich wollte nichts dem Zufall überlassen und entschied mich, ein Belohnungssystem zu installieren, welches ich zuvor an einer anderen Schule kennengelernt hatte. Ein Belohnungssystem mit Sternen. Ja, Sie lesen richtig: mit Sternen. Fast wie im Kindergarten. Das an sich hatte ja schon Sprengpotenzial, aber ich liess mir nichts anmerken. Das Sternesystem ist relativ simpel. Am Anfang der Stunde werden Ziele vereinbart, die es zu erreichen gilt. Es werden drei Sterne vergeben. Jeder Stern steht für fünf Minuten Spielzeit oder Zeit zur freien Verfügung am Ende der Stunde. Entfernt sich die Klasse von den Zielen, verliert sie Sterne. Bei jener dritten Sek reichte es bereits, wenn ich den Schwamm in die Hand nahm und mich damit auf die Sterne an der Wandtafel zubewegte. Sofort ermahnten sich die Schülerinnen und Schüler gegenseitig: «Achtung!», «Psssssst!», «Sind ruhig! Sie gaht zum Stern!» Ich verstehe bestens, dass die Schulleiterin im anschliessenden Gespräch etwas ungläubig schaute. «Sterne? Das hat funktioniert? Bei einer dritten Sek?», fragte sie. Ja, das hat es. Sogar erstaunlich gut.
Georg Gindely: Am Anfang hat mich die neue erste Klasse, deren Fachlehrperson in Englisch ich bin, mit ihrer Energie begeistert. Sie war wild, aber auch gewillt, etwas zu leisten. Ein halbes Jahr lang konnte ich die Energie in die richtigen Bahnen lenken. Dann begannen die Erstsekler, Grenzen zu testen. Ich hielt dagegen, was für Konflikte sorgte. Das Classroom-Management entglitt mir zunehmend. Dazu trug bei, dass die Impulskontrolle vieler Schülerinnen und Schüler klein ist und ich immer dünnhäutiger wurde. Unzählige Versuche, den Unterricht unter Kontrolle zu bekommen, scheiterten. Für Besserung sorgten schliesslich unverhofft meine Tochter und ihre beste Freundin. Die beiden waren am Ende der dritten Oberstufe und kamen bei mir auf Schulbesuch. Als Mitte der letzten Lektion die Unruhe immer grösser wurde, ergriffen die zwei das Wort und stauchten die Erstklässler zusammen: «Ihr seid ja eine richtige Horrorklasse», «Wenn ihr euch so respektlos verhält, werdet ihr nie eine Lehrstelle finden», «Wenn ihr euch in der Lehre so benehmt, dann habt ihr die Stelle nach zwei Tagen nicht mehr». Es war ruhig im Zimmer, und als einmal zwei Jungs ansatzweise lachten, sagte meine Tochter: «Ihr müend gar ned lache!» Ab da war es mucksmäuschenstill. Seither hat sich die Situation merklich gebessert. Der Spiegel, den fast Gleichaltrige den Schülerinnen und Schülern vorhalten, zeigt deutlich mehr Wirkung als Ermahnungen eines fast 50-Jährigen. Wenn es nun einmal unruhig ist, drohe ich damit, dass meine Tochter wieder vorbeikommt. Dann wird kurz gemurrt («Sie ist respektlos! Sie nannte uns Horrorklasse»). Anschliessend ist es angenehm still.