Im Projekt «Aussergewöhnlicher Berufseinstieg im Kanton Zürich» begleiten Forschende der PH Zürich Personen ohne Lehrdiplom und untersuchen, vor welchen Herausforderungen diese Personen stehen und wie sie damit umgehen. Im Interview stellt Projektleiter Tobias Leonhard erste Erkenntnisse und daran anschliessende Überlegungen vor.
Tobias Leonhard, Ihre Studie untersucht seit einem Jahr die Arbeit von Personen in den Schulen, die nicht über ein Lehrdiplom verfügen. Wer sind diese Personen und wie gehen Sie im Projekt vor?
Mit unserer Studie zum «Aussergewöhnlichen Berufseinstieg im Kanton Zürich» (ABZ) haben wir uns die Frage gestellt: «(Wie) geht das eigentlich, ein solcher Einstieg», der ja üblicherweise formal ein Lehrdiplom und inhaltlich eine ganze Menge an Wissen, Können und Haltungen zum Beruf voraussetzt? Das wollten wir von 14 Personen wissen, die zwischen 22 und 61 Jahren alt sind, mehrheitlich als Klassenlehrpersonen arbeiten und sich im August 2022 bereit erklärt haben, mit uns ein Jahr lang im Gespräch zu bleiben.
14 von mehr als 500 Personen klingt nach wenig?
Es war anspruchsvoll, diese Personen überhaupt für die Teilnahme zu gewinnen, denn die Situation war im Sommer 2022 für die meisten Angefragten aufregend genug. Mit diesen 14 Personen regelmässig im Gespräch zu bleiben und dann diese Gespräche auch noch forschend zu bearbeiten, ist zudem ein nicht zu unterschätzender Effort. Unser Team hat Interviews geführt, um regelmässig zu erfahren, wie es läuft. Bei einigen konnten wir an Elterngesprächen teilnehmen und mit drei Schulteams je eine Gruppendiskussion führen.
Was fällt auf bei den Personen, die in diesem Forschungsprojekt begleitet werden?
Auffällig ist, dass alle Personen über pädagogische Vorerfahrungen im weiteren Sinne verfügen, also schon einmal anderen etwas vermittelt haben, ob als Fachperson Betreuung oder auf dem Tennisplatz.
Nach einem Jahr Personen ohne Lehrdiplom in den Schulen – wie funktioniert es?
Für mich überraschend ist, dass es auf der sogenannten Sichtebene durchgängig «funktioniert». Im Gespräch mit den Teilnehmenden wurden uns am Anfang zwar grosse Herausforderungen berichtet, etwa zu verstehen, was in der Lehrtätigkeit wie zu tun ist. Aber schon nach wenigen Monaten sagten uns die Teilnehmenden, dass der Aufwand zwar weiterhin hoch, aber man doch auch «angekommen» sei. Für mich war keineswegs erwartbar, dass sich diese Anstellungen insgesamt als so stabil erweisen. Dass dieses Realexperiment bisher gut zu verlaufen scheint, ist bemerkenswert und natürlich auch ein grosses Glück für die Volksschule im Kanton Zürich.
Wie erklärt sich dieser Erfolg?
Aus meiner Sicht gibt es dafür gute Gründe. Es spricht zunächst für die Menschenkenntnis der Schulleitungen, die die Personen ohne Lehrdiplom angestellt haben. Diese wiederum arbeiten – soweit wir das sehen – mit grossem Engagement, hoher Motivation und der Bereitschaft für eine steile Lernkurve bezüglich der operativen Fragen der Unterrichtsgestaltung, des Umgangs mit Lehrmitteln, der Gestaltung von Elterngesprächen etc. Die Kollegien in den Schulen zeigen, dass sie ihre Inklusionsfähigkeit nicht nur für die Vielfalt der Schüler:innen, sondern auch beim eigenen Personal einsetzen können. Dass dies mit sehr hohem Zusatzaufwand verbunden ist, muss man aber sicher auch sehen.
Gibt es auch kritische Aspekte zu berichten?
Das Interessante und zugleich Kritische ist die scheinbare Alternativlosigkeit der aktuellen Situation. Weil eine Person ohne Lehrdiplom, die einen guten Umgang mit Schüler:innen pflegt und Unterricht durchführt, in jedem Fall besser ist als gar keine Lehrperson vor Ort, Unterrichtsausfall und möglicherweise Betreuungsnotstand zu Hause, müssen die Beteiligten – ohne dass das jemand so beabsichtigt und merkt – einer Allianz uneingeschränkten Vertrauens beitreten.
Was meinen Sie mit dieser Allianz?
Ganz unabhängig davon, dass die Teilnehmenden unserer Studie sich voll ins Zeug legen, besteht die Allianz beispielsweise darin, dass alle Beteiligten nicht so genau hinsehen dürfen. Wenn man froh sein muss, überhaupt eine (Lehr-)Person im Schulzimmer zu haben, ist es nicht sinnvoll, ganz genau hinzuschauen, wie sie unterrichtet, oder sich beispielsweise als Eltern mit der Forderung nach einer formell qualifizierten Lehrperson für die eigenen Kinder zu solidarisieren.
Was bedeutet diese Allianz für das Bildungssystem generell?
Es liegt auch an der Eigenschaft des «Produkts» Bildung, für das die Volksschule verantwortlich ist, dass es eben nicht so sichtbar ist wie die Produkte anderer Berufe. Wenn das eigene Kind am Mittag fröhlich nach Hause kommt, merkt man nicht unmittelbar, ob es am Vormittag auch so viel gelernt hat, wie es mit professioneller Begleitung hätte lernen können. Da Bildungserfolg auch von manch anderem Faktor abhängig ist, ist die direkte Zuschreibung von Verantwortung an die Lehrperson schwierig. Das ist etwa in der Zahnmedizin anders, weshalb ein «Laienzahnarzt» gesellschaftlich auch undenkbar ist.
Welche Gefahr resultiert aus diesem Zustand?
So wichtig es ist, die Leistungen all derer anzuerkennen, die aktuell dazu beitragen, dass alle Schüler:innen verlässlich unterrichtet werden können, stelle ich infrage, ob hohe Motivation, eine gute Beziehung zu den Schüler:innen und die zunehmend erfahrenere Gestaltung von Unterricht hinreichend für den Bildungserfolg möglichst aller Kinder und Jugendlichen sind. Die Frage zu stellen, wie sich eine solche Notmassnahme auf die Bildungsgerechtigkeit oder die «innovation capacity» der Schulen im Kanton Zürich auswirkt, erscheint zwar in der aktuellen Situation fast ungehörig, aber gerechtfertigt ist sie trotzdem.
Was für ein Fazit ziehen die Personen ohne Lehrdiplom selbst nach einem Jahr unterrichten?
Das werten wir derzeit noch aus. Auch wenn sich die Vorstellungen über den mit dem Lehrberuf verbundenen Aufwand bei einigen Teilnehmenden gewandelt haben, die Mehrheit ist nicht grundlegend abgeschreckt, manche haben die Zulassung zum Studium erhalten und sind voll motiviert, sich von der Person ohne Lehrdiplom zur Person mit Lehrdiplom zu entwickeln.
Ist angesichts dieser Erfahrungen für den Lehrberuf überhaupt ein Studium erforderlich?
Natürlich braucht es ein Studium. Denn wo, wenn nicht an der Pädagogischen Hochschule, kann man sich ohne permanente Praxisbedrängnis das Wissen erarbeiten, das erforderlich ist, um professionell verstehen zu lernen, wie Kinder und Jugendliche lernen und wie anspruchsvoll der Beruf wirklich ist? Sowohl das Wissen der Fächer als auch Fragen von Bildung, Erziehung und Sozialisation oder der Blick darauf, wie meine eigenen Schulerfahrungen Einfluss auf meinen Unterricht nehmen, kann man nicht durch «training on the job» erwerben. Darüber hinaus ist für mich Professionswissen «ein sanftes Ruhekissen», weil nur ein solches die Wahrnehmungs- und Handlungsfähigkeit sicherstellt, die hilft, auch in den unmöglichsten Situationen, die sich im Lehrberuf jeden Tag ereignen, ein paar solide Ideen zu haben, was situativ richtig und angemessen sein könnte. Das hält gesund und sollte der Gesellschaft ein Studium ihrer Lehrerinnen und Lehrer wert sein.