Zum Lernen braucht es keine Pulte und Wandtafeln. Das zeigt das Projekt der Zürcher Schule In der Ey, die beim ausserschulischen Lernen einen spezifischen Schwerpunkt setzt. Auch Mathematik und Deutsch lassen sich sehr gut draussen unterrichten.
Beim Rosenbusch neben dem Kindergarten hat sich eine Schar Mädchen und Buben versammelt. Alle zupfen eines dieser leuchtend roten Blütenblätter ab und legen es in ihren Plastiksack. Andere suchen in der Wiese nach Margeriten, Löwenzahnblättern, Flockenblumen, Zweigen und Steinchen in verschiedenen Farben. «Nur immer ein Blatt nehmen», ermahnt Kindergartenlehrerin Nicole Siegenthaler. «Wenn ihr die ganze Pflanze ausrupft, kann sie nicht weiterwachsen.» Die Kindergartenklasse der Stadtzürcher Schule In der Ey befasst sich seit einigen Wochen mit dem Thema «Formen und Farben». Die Kinder haben Rechtecke, Dreiecke und Kreise kennengelernt und anhand eines Kreises mit einer Farbskala die Grund- und Mischfarben besprochen. An diesem Maimorgen sind sie als «Farbendetektive» unterwegs und sollen möglichst viele Nuancen in der Natur entdecken. Auf dem Weg zum Spielplatz am Waldrand sammeln sie noch das eine oder andere Akelei- oder Kleeblütenblatt ein. Dann dürfen sie aber zuerst einmal frei spielen.
Seit dem letzten August verbringt die Kindergartenklasse jeden Mittwochmorgen ausserhalb des Schulzimmers. Sie gehört zu den ersten fünf Klassen der Schule In der Ey, die am Projekt «Draussen lernen» teilnehmen. Nächstes Jahr werden es zehn sein und künftig sollen sämtliche 21 Klassen mindestens einen halben Tag pro Woche in der Natur oder an einem anderen Ort lernen – zum Beispiel in einem Museum oder im Zoo. So will das Team die überfachlichen Kompetenzen besser fördern und den Kindern Bewegung sowie sinnliche Erfahrungen ermöglichen.
Mehr Interaktion und Bewegung
Auf dem Spielplatz Rosshalde ist ein Teil der Kinder den steilen, durchwurzelten Hang hinaufgeklettert und hat sich zwischen den Büschen versteckt. Ava rennt zum Holzturm, erklimmt die Leiter, späht durch das Fernrohr zum Hönggerberg hinüber und rutscht die Feuerwehrstange hinunter, während Carla sich auf das Schaukelpferd geschwungen hat und Luis mit Senja beim Bach planscht, der über eine offene Holzrinne fliesst. Zwei Kinder entdecken eine tote Maus am Wegrand und zeigen sie ihren Kameradinnen und Kameraden, was einige Aufregung auslöst.
«In einem offenen Raum ergeben sich vielfältigere Lernsituationen», erklärt Nicole Siegenthaler. «Die Gemeinschaft und das selbstständige Handeln werden gestärkt.» Seit dem Projektbeginn im letzten August habe das Wir-Gefühl in der Klasse zugenommen und die Kinder würden mehr Rücksicht aufeinander nehmen. «Nach bald einem Jahr finde ich, dass sie es extrem gut machen miteinander», sagt die frühere Pfadileiterin, die vor drei Jahren die Quereinstieg-Ausbildung an der PH Zürich abgeschlossen hat und davor unter anderem im Tourismus tätig war. Auch die Geschicklichkeit und die körperliche Koordination hätten sich verbessert, sagt Siegenthaler, besonders bei jenen Kindern, die am Anfang nicht so recht wussten, was sie draussen mit sich anfangen sollten.
Hühner und Garten pflegen
Die Ursprünge des Projekts liegen eigentlich schon drei Jahre zurück. Damals hatte eine Lehrerin befruchtete Hühnereier bestellt und mit ihrer Klasse beobachtet, wie die Küken schlüpften. Weil sie diese nicht einfach weggeben wollte, beschloss die Schule, einen Hühnerstall zu bauen. Gleichzeitig konnte sie den Garten der nahen Sekundarschule Letzi übernehmen. Die Kinder pflanzen unter anderem Mais an, den sie den Hühnern verfüttern, und düngen den Garten mit deren Mist.
«Die meisten Lehrpersonen waren sich einig, dass sich handelndes und entdeckendes Lernen positiv auf die Persönlichkeitsentwicklung auswirkt», sagt Schulleiter Moritz Etter. Als die Schulleitung von einer Aargauer Schule hörte, die bereits regelmässig draussen unterrichtet, setzte sie sich mit ihr in Verbindung und lud deren Schulleitung ein, von ihren Erfahrungen zu erzählen. Darauf wurde eine Pioniergruppe unter der Leitung von Kindergartenlehrerin Nicole Siegenthaler gegründet. Die Gruppe entwickelte ein Konzept, unterstützt von der Stiftung Silviva, die Lernen in und mit der Natur fördert. Alle beteiligten Lehrpersonen erhalten das Lehrmittel «Draussen unterrichten», das die Stiftung herausgibt.
Das Thema Nachhaltigkeit sei zwar anfangs nicht im Vordergrund gestanden, sagt Moritz Etter. Doch mit dem Aufenthalt im Freien gehe automatisch auch die Sensibilisierung für die Natur einher. Im kommenden Schuljahr will die Schule zudem eine Naturschule werden, nach dem Konzept der Stadt Zürich. Dieses will Kindern Naturbegegnungen unter fachkundiger Leitung ermöglichen. Die Schule In der Ey wird im Gemeinschaftsgarten des Vereins Grüenhölzli einige Beete pflegen und dabei altersgerechte Themen behandeln.
Viele Betreuungsressourcen nutzen
In der Kindergartenklasse ist es inzwischen Zeit für den Znüni. Klassenassistentin Stefanie Wenzler hat mit zwei Kindern Holz gesammelt und ein Feuer entfacht. Darüber hält sie ein Sieb mit Maiskörnern, die schnell aufspringen. Für alle gibt es eine Handvoll verlockend duftendes Popcorn, ergänzend zu den Früchten, Gemüsen und Crackers in den Znüniboxen. Danach kauern die Kinder auf einer Matte und kleben ihre gesammelten Naturschätze auf einen Kartonteller – schön in der Reihe der Farbskala: Neben das rote Rosenblatt kommt die gelbe Butterblume und danach das grüne Kleeblatt.
Wenn die Klassen im Freien sind, ist stets eine Begleitperson mit dabei. Ist keine Assistenz verfügbar, kommen auch Mitarbeitende der Betreuung oder Senioren und Seniorinnen infrage. Auf eine Unterstützung vonseiten der Eltern wird hingegen verzichtet. Eine Umfrage hat ergeben, dass sie kaum Kapazitäten haben. Im nächsten Schuljahr startet die Schule zudem ein Projekt mit der Sekundarschule Letzi: Schülerinnen und Schüler der dritten Oberstufe werden die Klassen beim Draussenlernen begleiten und dabei selbst wertvolle Erfahrungen für die Zukunft sammeln.
Mit Stoffdruck umgehen
Bereits Erfahrungen gemacht mit «draussen lernen» hat auch Erstklasslehrerin Tabea Brönimann. Am gleichen Morgen war sie mit ihren Kindern auf dem Hasenrainplatz. Die Waldlichtung mit herrlicher Aussicht ist bei den Klassen beliebt, weil Tische und Bänke zur Verfügung stehen sowie ein Brunnen, ein paar Spielgeräte und eine Toilette. Zu Beginn hat Brönimann mit ihrer Klasse eine Wahrnehmungsübung durchgeführt, bei der die Kinder aufmerksam auf die Geräusche im Wald horchten. Danach legten sie ein Naturbild mit gefundenen Materialien. Auch ein Mathethema hat die Lehrerin im Wald behandelt: Anhand eines Astes und verschiedener Fundgegenstände demonstrierte sie die symmetrische Achsenspiegelung. Manchmal nimmt sie auch Lese- und Schreibmaterialien mit. «Schwieriger ist es, wenn es regnet», räumt sie ein. Dann arbeitet sie mit laminierten Unterlagen.
Milena Thür ist ebenfalls begeistert vom neuen Ansatz. «Der erweiterte Lernraum bietet ganz neue Chancen», sagt die Fünftklasslehrerin. Die Interaktionen seien zwar teilweise etwas unübersichtlicher als im Klassenzimmer und manchmal komme es zu Konflikten. Doch dadurch ergebe sich auch die Gelegenheit, Lösungsmöglichkeiten zu finden und die überfachlichen Kompetenzen zu fördern, ist die frühere Pfadileiterin überzeugt. Mit ihrer Klasse hat sie dieses Schuljahr ein Filmprojekt in der Natur realisiert und im Fach Religion und Kultur eine Synagoge besucht. Etwas herausfordernd sei auf dieser Stufe der Stoffdruck, erklärt sie. «Wenn es kalt und nass ist draussen, ist es schwierig, Mathe
oder Deutsch zu unterrichten.» Einige Eltern würden sich zudem Sorgen machen im Hinblick auf den Übertritt in die Oberstufe, weiss Thür. «Sie befürchten, der Lehrplan könne nicht eingehalten werden oder die Kinder müssten den verpassten Stoff mit mehr Hausaufgaben nachholen.»
Fast alle unterstützen die Idee
Für eine professionelle Begleitung des Projekts hat sich die Schule an die PH Zürich gewandt. Unter der Leitung von Daniela Müller-Kuhn vom Zentrum für Schulentwicklung fand Anfang Jahr ein Workshop statt, an dem sich die Pionier-Lehrpersonen, die Schulleitung sowie eine Elternvertretung einbringen konnten. Um die ersten Erfahrungen zusammenzutragen, wurde anschliessend eine Umfrage unter den Eltern durchgeführt sowie Gruppendiskussionen unter Kindern und Lehrpersonen. Die allermeisten Rückmeldungen waren überaus positiv. «Fast alle Kinder finden es mega lässig», sagt Müller-Kuhn. Auch die Lehrpersonen seien zufrieden, obwohl der Ansatz für sie einen Mehraufwand bedeute und die Wetterverhältnisse oft herausfordernd seien.
Von den 80 angeschriebenen Elternpaaren haben sich fast drei Viertel an der Online-Umfrage beteiligt. Auch von dieser Seite gab es viel Zustimmung. Die meisten Eltern unterstützen das Projekt. Nur 10 Prozent äusserten Ängste, dass die Kinder zu wenig lernen könnten. «Die Frage ist, wann Lernen stattfindet», gibt Müller zu bedenken. «Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass Kinder ganz besonders beim Spielen viel Wichtiges für das Leben lernen», betont die Erziehungswissenschaftlerin. Die Schule plant nun, das Thema Lernen in Elterngremien aufzugreifen. Dass die Schule diesen Ansatz ausprobiert, findet Müller-Kuhn sehr fortschrittlich. «Nicht alle Schulen im Kanton Zürich unterrichten so konsequent und regelmässig ausserhalb des Schulzimmers.»
Kurz vor zwölf ist Nicole Siegenthaler mit ihrer Klasse wieder zurück beim Kindergarten, wo bereits einige Eltern warten. Manche Kinder haben Stecken mitgebracht, die zum Teil grösser sind als sie selber. Obwohl der Weg nur etwa einen halben Kilometer weit war, wirken die Knirpse müde, aber zufrieden. Mit einem Lied verabschieden sie sich voneinander: «Rot und gäl und grüen und blau, mir säged alli tschau, tschau, tschau.»