Neue Berufe setzen erweiterte sogenannte Life Skills voraus. Die Förderung dieser Lebenskompetenzen nimmt im Schulunterricht mehr und mehr Formen an. Internationale Bildungsprojekte setzen derweil auf spezifische Ansätze.
Fächerübergreifende Kompetenzen spielen seit der Verankerung im Lehrplan 21 eine wichtige Rolle im Schulalltag. Der Grundlagenbericht bezeichnet die überfachlichen Kompetenzen als «für eine erfolgreiche Lebensbewältigung zentral». Genannt werden unter anderem Selbstreflexion, Eigenständigkeit, Beziehungs-, Konflikt- und auch Kommunikationsfähigkeit. So sieht der Lehrplan 21 vor, nicht nur die Sachkompetenzen, sondern auch die Selbst- und Sozialkompetenzen der Schüler:innen zu bewerten.
Gut zwei Drittel der Kinder, die heute eingeschult werden, ergreifen voraussichtlich später einen Beruf, den es zum jetzigen Zeitpunkt noch gar nicht gibt, davon gehen WEF-Experten in den «Global Challenge Inside Reports» aus. Wer im sich ständig ändernden Arbeitsmarkt Erfolg haben will, braucht deshalb Kompetenzen wie analytisches sowie auch kritisches Denken, Empathie, Verantwortungsbewusstsein, Offenheit, Kreativität und Kooperationsfähigkeit. Entsprechend ist die Förderung von Lebenskompetenzen, häufig auch Life Skills genannt, ein vielschichtiges Anliegen und die schulische Arbeit muss heute mehr denn je unter einer erweiterten Perspektive betrachtet werden. Das Ziel von Lehrpersonen, Schulleitungen, Sozialarbeiter:innen sowie Betreuungspersonen darf nicht allein in der Vermittlung von Fachwissen bestehen, sondern auch darin, dass die Schüler:innen lebenstüchtige junge Menschen werden und man ihnen das richtige Rüstzeug mitgibt, sodass sie zu gesunden, klugen und natürlich auch zu zufriedenen Menschen heranwachsen.
Definition der WHO als Ausgangslage
Während der Lehrplan 21 in erster Linie auf ein lernförderliches Umfeld fokussiert, definiert das von der Weltgesundheitsorganisation WHO 1997 formulierte Konzept der Life Skills die angestrebten Fähigkeiten breiter, es beinhaltet zehn zentrale Lebenskompetenzen: Beziehungsfähigkeit, Selbstwahrnehmung, Problemlösefertigkeit, kritisches Denken, die Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen, Kreativität, Empathie, Kommunikationsfähigkeit sowie die Fähigkeit zur Gefühls- und Stressbewältigung. Die WHO beschreibt Lebenskompetenzen als elementare Fähigkeiten, die es den Menschen ermöglichen, ihr Leben zu steuern und ihre Fähigkeiten zu entwickeln, mit den Veränderungen in ihrer Umwelt zu leben und selbst Veränderungen zu bewirken.
In der Zwischenzeit wurde das Konzept durch die WHO und aus anderen Perspektiven erweitert und für unterschiedliche Kontexte adaptiert. In Anlehnung an die WHO teilt die PH Zürich im für Schulen entwickelten und online zur Verfügung stehenden Dossier «Gesundheitsförderung und Prävention» die Life Skills in drei Gruppen auf: Die erste Gruppe beinhaltet Skills zur Selbstregulation, etwa das eigene Selbstkonzept, also das Wissen, was die eigene Person ausmacht, die Emotions- und Stressregulation sowie die Handlungsplanung und -kontrolle. In der zweiten Gruppe unter dem Stichwort Beziehungsgestaltung werden Kommunikation, Empathie, Kooperation und Selbstbehauptung summiert. Die dritte Gruppe beinhaltet unter dem Überbegriff Informationsgewinnung, -bewertung und Entscheidungsfindung unter anderem kritisches und kreatives Denken.
Das Zentrum für Unterricht und transkulturelles Lernen an der Abteilung Internationale Bildungsentwicklung an der PH Zürich befasst sich seit mehreren Jahren mit dem Konzept der Life Skills und fördert diese erfolgreich in verschiedenen Projekten in der Entwicklungszusammenarbeit. Die Ansätze gehen dabei weit über die Gesundheitsförderung hinaus und umfassen beispielsweise Life Skills im Zusammenhang mit der Berufswahlorientierung.
Bereits Kleinkinder üben sich
Grundsätzlich werden Life Skills in verschiedenen Lebenswelten erworben und stetig weiterentwickelt. Als Kleinkind ist das familiäre Umfeld mit Eltern, Geschwistern oder weiteren engen Bezugspersonen prägend, in der Kindertagesstätte oder auf dem Spielplatz sind es andere Kinder, Betreuungspersonen sowie wiederum Erwachsene. Bereits Kleinkinder eignen sich Lebenskompetenzen an und setzen diese ein: Wenn das weinende Geschwister Zuwendung braucht, ist ein Mass an Empathie erforderlich. Will ein Kleinkind länger spielen als mit den Eltern vereinbart, kommen nicht selten kreative Kommunikations- und Problemlöseideen zum Vorschein.
Mit der Einschulung werden die Lebenskompetenzen durch Lehrpersonen, Schulsozialarbeiter:innen und Betreuungspersonen sowie im Klassenverband mit Freund:innen erweitert. Auch im Kontext von Sport- und Musikvereinen entwickeln sich die Life Skills. Später sind es Peergroups und die sozialen Medien, die einen grossen Einfluss ausüben, in welche Richtung junge Menschen ihre Lebenskompetenzen weiter ausbauen. Doch wie erlangen Kinder und Jugendliche diese Life Skills und wie lassen sich Lebenskompetenzen im Schulalltag fördern? Was kann die Regelschule von internationalen Projekten lernen?
Identitätsstiftende Unterrichtsthemen
Schule ist längst nicht nur eine Bildungs-, sondern auch eine wichtige Sozialisationsinstanz. So bedeutsam die im Lehrplan 21 erwähnten Lebenskompetenzen für den schulischen Alltag sind, so weitreichend sind sie gleichsam für das ausser- und nachschulische Leben.
Das Schulklima ist dabei ein wichtiges Puzzleteil in der Sozialisation. Es beeinflusst, wie kommuniziert wird und wie Konflikte gelöst werden, ob gegenseitige Wertschätzung und Unterstützung vorhanden sind. Dabei ist die Förderung der Lebenskompetenzen nicht nur eine Aufgabe der einzelnen Lehrperson und ihres Unterrichts. Auch klassenübergreifend, mit der Schulsozialarbeit, auf dem Pausenplatz sowie dem Schulweg entfalten koordinierte Regeln ihre Kraft. Der Schulleitung kommt dabei eine Schlüsselrolle zu, liegt es doch in ihrer Verantwortung, Prozesse in diese Richtung anzustossen und im Schulprogramm entsprechende Ressourcen vorzusehen.
Unterrichtsgestaltung ermöglicht den Aufbau von Lebenskompetenzen, da Interaktion zwischen Lehrperson und Schüler:in – oder unter Schüler:innen – selten nur fachliche Inhalte transportiert. So sind kooperative Lernformen gute Übungsfelder für Kommunikation, Empathie und Beziehungsfähigkeit. Die sorgfältige Differenzierung von Leistungsanforderungen ermöglicht allen Schüler:innen – unabhängig von ihrer Leistungsfähigkeit – Erfolgserlebnisse. Dies trägt zum Aufbau eines stabilen Selbstwerts bei. In einem Portfolio können Kinder und Jugendliche ihre Lernwege und Ressourcen reflektieren und damit an ihren diesbezüglichen Fähigkeiten feilen.
Gerade die Wahl der Unterrichtsthemen ist in heterogenen Klassen sorgfältig zu eruieren, sodass sie für alle sinn- und identitätsstiftende Elemente enthalten. Anerkennung und Akzeptanz der eigenen Identität zu erfahren, ist ein wichtiger Grundstein, um ein positives Selbstwertgefühl aufzubauen.
Life Skills werden meist im Zusammenhang mit Gesundheitsprävention vermittelt, hier bietet das Konzept die offensichtlichsten Anknüpfungspunkte. Prävention ist generell zu einem bedeutenden Handlungsfeld im schulischen Kontext geworden. So ist etwa die Sensibilisierung für Essstörungen vermehrt in den Fokus gerückt. Ein realistisches Selbstbild und die Fähigkeit, allfällige fragliche Rollenvorstellungen kritisch zu hinterfragen, können helfen, weder durch übermässiges ungesundes Essen Frust abzubauen noch in eine Essstörung zu verfallen und den eigenen Körper nur noch unter dem Aspekt des Körpergewichts zu betrachten. Eng verknüpft mit einem positiven Körpergefühl eines jungen Menschen ist die Auseinandersetzung mit der Vielfalt der Lebensentwürfe sowie der sexuellen Orientierung – dies bedingt das Kennen der eigenen Wünsche, Grenzen und Bedürfnisse. Auch wird das Konzept der Life Skills häufig mit Ansätzen der psychischen Gesundheit oder Sucht- und Gewaltprävention verwoben.
Medienkompetenzen erarbeiten
Mit dem Fokus auf Medienkompetenzen sind in den letzten Jahren neue Präventionsthemen im schulischen Auftrag entstanden. Peter Holzwarth, Dozent für Medienpädagogik an der PH Zürich, hat eine Vielzahl an Projektideen gesammelt, um Lebenskompetenzen und Selbstbewusstsein von Schüler:innen mithilfe von Medienprojekten zu fördern Die daraus entstandene Publikation lädt ein, mit Fotografie und Video die eigenen Life Skills weiterzuentwickeln und Medienphänomene im Alltag besser zu verstehen. «Das Buch soll dazu anregen, die eigene Mediennutzung bewusster und achtsamer zu gestalten – davon sollen nicht nur Schüler:innen, sondern ebenso Lehrpersonen profitieren», betont Peter Holzwarth. Er möchte einen Beitrag daran leisten, das Potenzial von Medien für die Stärkung der Selbstwirksamkeit von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen zu nutzen und die immer wieder eher negative Konnotation der Mediennutzung umzudeuten.
Eines der Lieblingsprojekte des Medienpädagogen ist die Idee «My Skill Star», der von einem Autor:innenteam für das Lehrmittel FACE der PH Zürich entwickelt wurde. Das Lehrmittel widmet sich spezifisch der Förderung von Life Skills. Beim Medienprojekt «My Skill Star» wird in der Mitte eines grossen Papiersterns ein Selfie oder Porträtbild aufgeklebt und die einzelnen Strahlen des Sterns mit unterschiedlichen Fähigkeiten beschriftet oder bemalt. Unter dem Stern kann in einem zusätzlichen Feld die Lieblingstätigkeit aufgeführt werden.
«Ein anderes schnell umsetzbares Projekt besteht darin, ein Porträtbild mit dem individuellen Satz ‹Ich finde mich gut, weil …› zu beschriften», so Peter Holzwarth. Auffallend sei dabei, dass manche Kinder und Jugendliche genau wüssten, was sie an sich verbessern möchten, aber Mühe hätten, unmittelbar etwas Positives zu notieren, gibt der Medienpädagoge zu bedenken.
Peter Holzwarth ist überzeugt, dass die Förderung der Life Skills weit über die Gesundheitsförderung hinausgeht. Einerseits seien Lebenskompetenzen zentral für die Entwicklung der Persönlichkeit und für das Wohlbefinden jedes einzelnen, andererseits spielten sie auch eine grosse Rolle für den Zusammenhalt einer Gesellschaft. «Auf ökonomischer Ebene können gesellschaftliche Folgekosten von Fragmentierung und Desintegration minimiert werden.» Er würde es deshalb begrüssen, wenn die erweiterte Förderung der Life Skills im Unterricht zu einem zentralen, fächerübergreifenden Schwerpunkt würde. Dies nicht, um eine Maximierung der Schulleistungen zu erreichen, sondern «um das Gesamtsystem im Sinne von mehr Menschlichkeit zu verändern».
Internationale Projekte als Vorreiter
Unter diesen Aspekten ist die Förderung der Lebenskompetenzen für Kinder und Jugendliche, die Minderheiten angehören oder in einem multiethnischen oder -lingualen Gebiet leben, besonders wichtig. Das Zentrum für Unterricht und transkulturelles Lernen unter der Leitung von Wiltrud Weidinger unterstützt in unterschiedlichen Projekten zum Thema Life Skills Lehrpersonen und Mitarbeitende von NGOs beim Unterrichten und Fördern von Lebenskompetenzen in verschiedenen Ländern – auch in Krisengebieten.
Aktuell begleitet das Zentrum verschiedene parallel laufende Projekte, die sich über jeweils zwei bis vier Jahre Laufzeit erstrecken. So wurde im Rahmen des Projekts «JOBS Moldova» in der Republik Moldau ein Lehrmittel für das Schulfach «Personal Development» entwickelt. Insgesamt entstanden zwölf Bände (in Englisch, Rumänisch und Russisch) für den Unterricht in der ersten bis zur zwölften obligatorischen Schulstufe. Das moldauische Bildungsministerium fragte die PH Zürich im Sommer 2019 an, eine Lehrmittelreihe zur Förderung der Life Skills im Zusammenhang mit der Berufswahlorientierung zu entwickeln. Finanziert wird das Projekt durch den Gemeinnützigen Fonds des Kantons Zürich. «Die Bereitschaft, an den Lebenskompetenzen zu arbeiten, ist in diesen Ländern vonseiten der Lehrpersonen und der Schüler:innen sehr gross. Vielerorts herrscht starker Druck, die lokale Ausbildung an europäische Länder anschlussfähig zu machen», sagt Wiltrud Weidinger. Dabei gehe es nicht nur um formale Ausbildungen und Wissen, sondern auch um personale Entwicklungsmöglichkeiten und kulturelles Kapital.
«Play and Life Skills», ein ebenfalls vom Gemeinnützigen Fonds des Kantons Zürich finanziertes Projekt in Serbien und Nordmazedonien, engagiert sich dafür, dass die lokalen Lehrpersonen die Bedeutung des Spiels für das kindliche Lernen besser deuten. Kinder im Alter von vier bis acht Jahren eignen sich im Spiel sowohl fachliche als auch überfachliche Kompetenzen an, etwa kreatives Denken oder den Umgang mit Emotionen. Weil freies Spiel so wichtig für das Lernen ist, soll diesem im Unterricht mehr Raum gegeben werden, als dies gemeinhin im Mindset vieler Lehrpersonen – auch hiesiger – üblich sei. Ein weiteres aktuelles Projekt, das vom Staatssekretariat für Migration mitfinanziert wird, ist «CORE», das sich an Geflüchtete in Camps in Griechenland, Libanon und Italien richtet. Im Rahmen des Projekts wurde ein digitales Lehrmittel in Arabisch, Dari, Englisch, Griechisch und Italienisch entwickelt, das explizit Menschen auf der Flucht anspricht und ihre Life Skills fördert, es kombiniert dabei digitales Lernen mit kooperativen Lernformen. Ziel ist die Stärkung des Selbstbewusstseins und der Fähigkeit, andere Personen und die Umgebung realistischer und empathischer wahrnehmen zu können. «CORE» verfolgt zudem das Ziel, dass junge Menschen sich mit ihren beruflichen Perspektiven auseinandersetzen.
«Die Rückmeldungen, die wir aus den Projekten erhalten, spiegeln den Zugewinn für die involvierten Kinder und Jugendlichen sowie auch für die Lehrpersonen und teils beteiligten, häufig bildungsfernen Eltern», berichtet Wiltrud Weidinger aus ihrer langjährigen Erfahrung in der Entwicklungszusammenarbeit.
«Das Ziel unserer Arbeit mit den Projektpartner:innen ist, für die Kinder und Jugendlichen eine Perspektive für die Zukunft zu ermöglichen – nach Möglichkeit in ihren Herkunftsländern, um einen Braindrain zu verhindern», betont die Erziehungswissenschaftlerin und ergänzt: «Es ist einerseits sehr bereichernd zu sehen, wie wir im Ausland wertvolle Projekte zur Förderung der Life Skills anstossen können, und andererseits eine Expertise aus den Projekten ziehen können, die durchaus auf Schulprojekte in der Schweiz übertragbar ist, gerade auch an Schulen mit heterogener Schülerschaft.»