Achtsam in der Schule – gerüstet für Beruf und Leben

Innehalten im Alltag und den Moment bewusst wahrnehmen: Immer mehr Menschen entdecken den Ansatz der Achtsamkeit zur Stressreduktion. Mit einem spezifischen Programm können nun auch Schulkinder davon profitieren und damit ihre Life Skills fördern.

Im Schneidersitz ruhen die Kinder auf ihren Kissen. Einige halten die Augen geschlossen, andere richten den Blick auf den grünen Hügel vor dem Fenster und den wolkigen Himmel. «Ein goldener Faden zieht den Kopf sanft nach oben», leitet die Lehrerin die Übung an. «Macht’s euch bequem und geniesst die Stille.» Nach einer Minute schlägt Lehrerin Susanna Streit die Klangschale an. Der Ton wird leiser und leiser. Sobald die Kinder nichts mehr hören, erheben sie sich und setzen sich im Kreis auf den Boden, rund um einen roten Teppich.

Der rote Teppich im Zimmer hat eine wichtige Funktion: Hier trifft sich die Klasse zu Beginn und am Ende der Lektionen. Gleichzeitig nutzen ihn die Schülerinnen und Schüler auch als Arbeitsplatz. Fotos: Alessandro Della Bella

Die sechste Klasse der Primarschule Dägerlen arbeitet an diesem Montagmorgen mit dem Achtsamkeitsprogramm MoMento. Dieses orientiert sich am Lehrplan 21 und hat zum Ziel, Lebenskompetenzen wie Selbstwahrnehmung und Beziehungsfähigkeit zu fördern. Kurz zusammengefasst geht es darum, mit den Gedanken im Hier und Jetzt zu bleiben und die Empfindungen bewusst wahrzunehmen, ohne sie zu bewerten. Wissenschaftliche Studien konnten nachweisen, dass eine achtsame Lebensweise Stress reduziert und diverse positive Auswirkungen auf die Gesundheit hat.

Professor erklärt Gehirn
Die Schulkinder in Dägerlen erhalten nun ein Blatt mit einem Dialog zwischen Mo, Mena und dem Professor – Figuren, die in den MoMento-Unterrichtsmaterialien immer wieder vorkommen. In Dreiergruppen lesen die Schülerinnen und Schüler, wie das Gehirn funktioniert, illustriert am Bild einer Hand: In einer Gefahrensituation schlägt die «untere Etage» Alarm und es entstehen unangenehme Gefühle wie Angst oder Stress. Der in die Handfläche gebeugte Daumen symbolisiert diese Hirnregion mit den einschiessenden Emotionen, die nach einer unmittelbaren Reaktion verlangen. Was etwa bei einem drohenden Unfall sinnvoll ist, kann in einer Prüfungssituation jedoch lähmen. Wie der Professor erklärt, hilft uns die «obere Etage», ruhig ein- und auszuatmen, um gute Entscheidungen zu treffen. Dies wird mit den anderen vier Fingern dargestellt: Wenn sich die Faust schliesst, legen sich diese schützend über den Daumen und ermöglichen, dass wir überlegen vor dem Handeln.

Letztes Jahr haben die Kinder auch selber Glitzerflaschen hergestellt, die das emotionale Geschehen ebenfalls verdeutlichen: Eine Petflasche haben sie mit gefärbtem Wasser und glitzernden Partikeln gefüllt. Wenn sie diese schütteln, wirbelt der Glitzer durcheinander und setzt sich dann langsam wieder auf dem Boden ab. Dies soll einen aufgewühlten Gemütszustand darstellen, der sich allmählich wieder beruhigt. In ihrem Tagebuch zeichnen die Schülerinnen und Schüler Situationen, in denen es ihnen «den Deckel gelupft» hat – etwa ein Streit mit dem Bruder oder auch nur Kleinigkeiten wie ein ungeliebter Znüni in der Lunchbox. Danach besprechen sie gemeinsam Strategien, um sich wieder zu beruhigen. «Mir hilft es, dem Vogelgezwitscher zuzuhören», sagt Nadine. Lenny dagegen reagiert sich lieber ab, indem er in ein Kissen hineinboxt.

Stimmung bewusst wahrnehmen
Ein weiterer zentraler Inhalt ist das Kennenlernen verschiedener Stimmungen. An einer Wand des Klassenzimmers kleben zahlreiche Karten mit Gesichtsausdrücken von wütend über glücklich, traurig, ängstlich und cool bis zu überrascht. An diesem Montag nach der Umstellung auf Sommerzeit haben die meisten Kinder ihr persönliches Magnettierchen unter die Karte «müde» gesetzt. Das Bewusstwerden der eigenen Befindlichkeit sowie derjenigen der Mitmenschen sei ein Grundelement der achtsamen Lebensweise, erklärt Susanna Streit. Es lege die Basis für einen konstruktiven Umgang mit uns selber und anderen. «Der Wortschatz der Kinder bezüglich Gefühle hat sich stark verbessert», freut sich Streit. Zum Beispiel habe ein Kind kürzlich gesagt, es sei verwirrt.

Ein Beispiel einer Achtsamkeitsübung: Ein Kind hält die Augen geschlossen, ein anderes fährt langsam
mit dem Finger den Unterarm entlang. Es gilt zu erraten, wann der Finger beim Ellbogen ankommt.

Die Lehrerin, die seit 30 Jahren unterrichtet, beschäftigt sich selber schon lange mit dem Thema Achtsamkeit und nahm vor einigen Jahren an einem MBSR-Kurs (Mindfulness-Based Stress Reduction) teil. Nach einem privaten Schicksalsschlag half ihr dies, besser mit ihren Gefühlen zurechtzukommen und aus dem Gedankenkreisen herauszufinden. Mittlerweile meditiert sie meist täglich. «Eigentlich wollte ich meine eigenen Erfahrungen nicht mit dem Unterricht vermischen», sagt Streit. Doch ihr fiel auf, dass viele Elemente des Achtsamkeitskonzepts auch in anderen Fachrichtungen vorkommen, zum Beispiel in der Theaterpädagogik, mit der sie ebenfalls arbeitet. Ihr war es ein Anliegen, auch den Schülerinnen und Schülern Pausen im hektischen Schulalltag zu ermöglichen. «Für die Kinder, mich selbst und vor allem auch für uns als ganze Klasse sind diese Minuten des Innehaltens immer wieder Gold wert.»

Workshops mit Selbsterfahrung
Vor zwei Jahren meldete sich Susanna Streit für eine Weiterbildung bei der Organisation Achtsame Schulen Schweiz an, die unterdessen MoMento Swiss heisst. Die acht Workshops à zwei Stunden werden unter anderem an der PH Zürich angeboten. Mittlerweile haben schweizweit über 500 Schulmitarbeitende teilgenommen. Die Unterrichtseinheiten mit Unterlagen und Materialien sind altersgerecht gestaltet und für die drei Zyklen der Volksschule konzipiert. Während im ersten Zyklus mehr mit Geschichten, Spielen und Tieren gearbeitet wird, spielen im zweiten Zyklus die neurowissenschaftlichen Inhalte eine wichtige Rolle und im dritten Zyklus kommen unter anderem das Philosophieren über Glück und Beziehungen dazu.

Die Vermittlung von Unterrichtstechniken stehe bei den Trainings aber nicht im Vordergrund, betont MoMento-Geschäftsführer Matthias Rüst. «Viel wichtiger ist die Selbsterfahrung.» Man wolle die Lehrpersonen beim Umgang mit Stress und in der Beziehungsgestaltung unterstützen und sie für eine achtsame Klassenführung sensibilisieren. Dazu gehöre zum Beispiel, dass sie die Bedürfnisse der Kinder wahrnähmen, auch wenn diese nur zwischen den Zeilen geäussert würden. Eine tägliche persönliche Achtsamkeitspraxis im Stillen helfe natürlich dabei, aber wesentlicher sei die allgemeine Selbstfürsorge, erklärt der MBSR-Lehrer. Ausschlaggebend sei, dass sie den Kindern mit Ruhe und Aufmerksamkeit begegneten und ihnen so das Rüstzeug für Beruf und Privatleben mitgäben. «Kinder lernen am meisten über Vorbilder.»

In der Primarschule Dägerlen liessen sich mittlerweile acht weitere Lehrpersonen begeistern und besuchten miteinander eine Einführung. Eine davon war Nadine Heer, die eine gemischte dritte und vierte Klasse unterrichtet. «In diesem Alter sind viele Kinder noch hibbelig und können nicht lange stillsitzen», sagt die Lehrerin. Sie arbeite deshalb oft mit Spielen. Zum Beispiel schleichen einige Kinder als Geister im Zimmer herum, während andere die Augen geschlossen halten. Sie sollen gut hinhören und spüren, wenn sich die Geister hinter ihren Rücken stellen. Auch Schulleiterin Esther Stäheli hat an der Weiterbildung teilgenommen. Weil in ihrem kleinen Team mittlerweile mehr als die Hälfte Interesse am Thema zeigt und Erfahrungen damit gemacht hat, kann sie sich vorstellen, zusammen ein Konzept auszuarbeiten, um den Ansatz zu konkretisieren und im Schulhaus verbindlicher umzusetzen. Auf keinen Fall wolle sie aber Druck auf andere Lehrpersonen ausüben, betont die Schulleiterin. «Das funktioniert nur, wenn es freiwillig ist.»

Kopf lüften während Mathestunde
In der sechsten Klasse von Susanna Streit steht unterdessen die Mathelektion an. In Zweierteams rechnen die Kinder Prozentsätze aus: Wie teuer ist eine Jacke im Ausverkauf, die neu 200 Franken kostete und nun mit einem Rabatt von 70 Prozent zu haben ist? Alle Paare diskutieren die Aufgabe konzentriert. Nachdem die Klasse die Ergebnisse auch noch in Brüche und Dezimalzahlen umgerechnet hat, rauchen die Köpfe. Zeit für eine weitere Achtsamkeitsübung: Während ein Kind die Augen geschlossen hält, fährt ihm ein anderes langsam mit dem Finger auf der Innenseite des Unterarms vom Handgelenk her aufwärts. Es gilt zu erraten, wann die imaginäre Raupe beim Ellbogen ankommt, was schwieriger ist, als man meinen könnte.

Still sein muss geübt werden
Als Susanna Streit das Achtsamkeitsprogramm Anfang sechste Klasse einführte, habe das noch nicht immer so gut geklappt, blickt sie zurück. «Einige haben gekichert während der Übungen.» Sie stelle es den Kindern frei, ob sie mitmachen wollten oder nicht. Es gebe stets die Möglichkeit, still für sich etwas anderes zu machen. Einige hätten auch heute noch Mühe mit den Praktiken, würden es aber immer wieder probieren. Das Ziel der Lehrerin ist, dass die Kinder das Gelernte dereinst auch ausserhalb der Schulstunden anwenden können. «Ich möchte ihnen Werkzeuge für den Alltag mitgeben.»

Erst die Mathelektion, anschliessend ist es Zeit zum Durchatmen und für eine Achtsamkeitsübung.

Vieles scheint bei den Kindern schon angekommen zu sein: «Das stille Sitzen ist angenehm und lockert den Kopf», sagt etwa Alina. Sie habe es auch schon vor einer Prüfung versucht, um ihre Nervosität loszuwerden, doch leider habe es nicht funktioniert. Auch Maurice findet die kurzen Übungen beruhigend. Weniger positiv äussern sich drei andere Schüler: «Es ist langweilig», sagt der eine und sein Kollege ergänzt: «Eine Minute geht ja noch, aber länger kann ich fast nicht ruhig sitzen und nichts tun.» Am letzten Elternabend hat die Lehrerin erläutert, dass es in der Schule nicht nur darum gehe, Leistung zu erbringen, sondern sich auf das spätere Leben vorzubereiten. Dazu gehöre auch, dass man sich regenerieren könne. Kritische Stimmen seien keine laut geworden.

Vor dem Mittag versammeln sich die Schülerinnen und Schülern nochmals im Kreis und verabschieden sich mit einem Spiel, bei dem alle mit Namen vorkommen. «Malou meldet sich ab», sagt ein Mädchen und dreht sich einmal um die eigene Achse, worauf alle anderen dasselbe tun. Levin hüpft nach vorne und ruft «ho». Grosses Gelächter, während die Klasse seine Bewegung imitiert. Am Ende schütteln die Kinder die Hand der Lehrerin und machen sich auf den Weg zum Mittagessen.