«Wer die attraktivsten Angebote macht, erhält die besten Talente»

Der Fachkräftemangel ist in vielen Branchen spürbar. Im Lehrberuf seien vor allem strukturelle Gründe und vorherrschende Gender-Stereotype dafür verantwortlich, sagt Arbeitsmarktexperte Michael Siegenthaler. Die Rekrutierung von zusätzlichen Quereinsteigenden sieht er als Ansatz, dem Mangel entgegenzutreten.

«Gerade das Sinnstiftende nimmt für viele Arbeitnehmende eine zunehmend wichtige Rolle ein.» Michael Siegenthaler von der Konjunkturforschungsstelle der ETH. Foto: Nelly Rodriguez

Sie forschen seit Jahren zum Schweizer Arbeitsmarkt. Was sind die Gründe für den Fachkräftemangel in vielen Branchen?
In einigen Bereichen ist das Problem des Fachkräftemangels hausgemacht, die Schweiz investiert schlicht zu wenig in die Ausbildung. So stehen etwa – auch wegen den hohen Kosten – nicht genug Studienplätze für das Medizinstudium zur Verfügung, mit dem Resultat, dass zu wenig Ärztinnen und Ärzte ausgebildet werden. Um den Bedarf zu decken, verlässt sich die Schweiz auf die Zuwanderung und holt Ärztinnen und Ärzte aus dem Ausland. In der Pflege haben wir ebenfalls einen teils selbstverschuldeten Fachkräftemangel. In diesem Bereich hat die Politik lange zugeschaut. Und der Föderalismus ist auch nicht hilfreich: Die Kosten für die Ausbildung fallen zu grossen Teilen bei Kantonen und Gemeinden an. Wenn ein Kantonsspital aber viele Pflegende ausbildet, profitieren auch die Nachbarkantone. Bei Ingenieurberufen rekrutiert die Schweiz ebenfalls gerne im Ausland. Gerade in diesem Bereich schafft es die Schweiz trotz vieler Bemühungen bisher nicht, dass sich genügend junge Frauen für ein MINT-Studium interessieren. Andere Länder sind diesbezüglich deutlich weiter, das ist bedenklich. Warum Frauen in diesen Berufen in der Schweiz so untervertreten sind, ist nicht zu hundert Prozent geklärt. Gender-Stereotype dürften aber eine Rolle spielen und fördern so den Fachkräftemangel.

Hat die Corona-Pandemie den Fachkräftemangel verstärkt?
In gewissen Branchen deutlich, in der Gastronomie und Hotellerie zum Beispiel hat sich der Fachkräftemangel auch aufgrund der Pandemie klar zugespitzt. Ein Grund dafür dürfte sein, dass viele Schweizer Gastrounternehmen den Bedarf vorwiegend mit Personal aus den Grenzländern decken. Diese Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zog es vor allem in den ersten beiden Corona-Jahren nicht mehr für eine Arbeitsstelle in die Schweiz.

Kam es durch die Pandemie zu vermehrten Branchenwechseln?
Es ist nicht zu beobachten, dass es durch Corona und die teils damit einhergehenden Jobverluste auffallend viele Branchenwechsel gab. Im Gegenteil: Während der Pandemie blieben überdurchschnittlich viele ihrem Job und damit ihrer Branche treu. Gleichzeitig stellten aber viele Betriebe weniger neues Personal an. Corona verstärkte den Fachkräftemangel daher viel mehr aufgrund der ausgebliebenen Neuanstellungen als aufgrund von vielen Branchenabgängen. Zudem kam es mit dem Abflachen der Pandemie in praktisch allen Branchen – und dazu noch weltweit gleichzeitig – zu einem Boom am Arbeitsmarkt. In einer solchen Situation ist es naturgemäss sehr schwierig, Personal zu finden. Der Fachkräftemangel war 2022 in fast allen Branchen sehr ausgeprägt. Am stärksten war er gemäss unseren Umfragen im Baubereich, im Gesundheitswesen, in der Informatik und im Gastgewerbe.

Die Ursachen für den Fachkräftemangel sind also vielfältig. Wo sehen Sie Gründe für den Mangel an Lehrpersonen?
Eine gewichtige Ursache für den Fachkräftemangel bei den Lehrpersonen dürfte ein strukturelles Problem sein. Innerhalb der Babyboomer-Generation gibt es relativ viele Lehrpersonen. Die Babyboomer verlassen bekanntlich seit einigen Jahren den Arbeitsmarkt mit der Folge, dass geburtenstarke Jahrgänge aufgrund von Pensionierungen die Schulen verlassen und weniger geburtenstarke Jahrgänge nachkommen. Diese Pensionierungswelle von Lehrerinnen und Lehrern wird erst etwa 2030 abklingen, dann könnte es eine gewisse Entspannung geben. Ein weiterer Grund für den Fachkräftemangel im Lehrberuf dürfte sein, dass die Zugangshürden für die Ausbildung an den Pädagogischen Hochschulen recht hoch sind, Stichwort Tertiarisierung. Für eine Anstellung als Lehrperson sind klare Abschlüsse gefordert und natürlich müssen auch die Sprachkenntnisse einwandfrei sein.

Gerade die Zugangshürden wurden aber in den letzten Jahren angepasst.
Die Diversifizierung der Zugangsmöglichkeiten war ein pragmatischer Entscheid. Die unterschiedlichen Wege, um an die Pädagogische Hochschule zu kommen oder auch die Möglichkeit nach einer anderen Ausbildung ein Studium aufzunehmen, ziehen neue potenzielle Lehrpersonen an. Davon könnte die Volksschule profitieren, es ist nicht mehr nur immer der klassische Werdegang, der ins Schulzimmer führt.

Nur für Zugewanderte bleibt es schwierig, auch wenn Hochqualifizierte teils die Voraussetzungen hätten, als Lehrperson zu unterrichten.
Für Zugewanderte ist es schwierig, in der Schweiz als Lehrperson zu arbeiten, dies ist in vielen regulierten Berufen der Fall. Neben den erwähnten Sprachkenntnissen – und zum Deutsch müsste es im Schulzimmer idealerweise auch Schweizerdeutsch sein – ist die Anerkennung von ausländischen Diplomen nicht immer einfach, gerade für Personen, die nicht aus dem europäischen Raum kommen. Natürlich ist es wichtig, die hohen Qualitätsansprüche im Schulwesen zu wahren. Gleichzeitig stellt sich die Frage, was eine gute Lehrperson ist. Mit dieser Frage haben sich die Pädagogischen Hochschulen in den letzten Jahren eingehend beschäftigt. Das Resultat sind die vielfältigen Zugänge zur Ausbildung. Nun müssten diese wohl noch aktiver beworben werden. Eine Möglichkeit wäre die aktive Rekrutierung von Lehrpersonen, wie es in anderen Branchen üblich ist.

Welche Vorteile des Berufs würden Sie denn bewerben?
Die Vorteile des Lehrberufs sind meiner Ansicht nach die Jobsicherheit, die Planbarkeit, die Möglichkeiten zur Teilzeitarbeit und die recht gute Bezahlung. Gerade das Sinnstiftende nimmt für viele Arbeitnehmerinnen und -nehmer eine zunehmend wichtige Rolle ein, das kann der Lehrerinnen- und Lehrerberuf bieten. Zudem ist die Flexibilität in den Schulferien für viele Eltern ein nicht zu unterschätzendes Argument. Ich könnte mir vorstellen, dass mit zunehmend progressiven Familienmodellen der Quereinstieg in den Lehrerberuf gerade auch bei Vätern Aufwind haben könnte.

Wäre die Aufweichung der Gender-Stereotype ein Schlüssel gegen den Mangel an Lehrpersonen?
Ich bin kein Experte in der Frage, weshalb gerade auf unteren Schulstufen so wenig Männer unterrichten. Aber es ist plausibel, dass Stereotype hier eine Rolle spielen. Allerdings gibt es meines Wissens wenig Massnahmen, die helfen, Geschlechter-Stereotype aufzuweichen. Stereotype sind tief verankert, sie zu überwinden, ist wie das Bohren eines dicken Brettes. Eine Massnahme, die helfen könnte, sind Vorbilder – also Männer, die den Schritt in den Lehrberuf wagen.

Eine entsprechende Entscheidung muss überlegt sein, sind mit einem Berufswechsel doch finanzielle Engpässe verbunden. Was sind denn Faktoren für einen solchen Schritt?
Tatsächlich wird der Entscheid für einen Berufswechsel selten von heute auf morgen gefällt, das stimmt. Häufig sind es exogene Faktoren – wie etwa eine Entlassung –, die dazu führen, dass sich Arbeitskräfte umorientieren und etwas Neues wagen. Oder eine Sinnkrise im Arbeitsleben. Diese Berufsleute müssten aktiv umworben werden, viele bringen wertvolle transferierbare Kompetenzen mit. Aber die finanziellen Ressourcen für eine Umschulung sind tatsächlich teils ein gewichtiges Hindernis, den Schritt zu wagen. Hier könnte allenfalls angesetzt werden. Natürlich bringt es gesamtwirtschaftlich nicht viel, wenn die Berufe sich gegenseitig die Fachkräfte wegschnappen. Aber die Arbeitswelt funktioniert nun einmal so: Wer die attraktivsten Angebote macht, erhält die besten Talente.

Ãœber Michael Siegenthaler

Michael Siegenthaler ist 1985 geboren und wuchs mit seinen beiden Geschwistern im Emmental auf. Sein Vater war Maschinenmechaniker und leitet seit vielen Jahren den Kundendienst eines mittelgrossen Unternehmens und seine Mutter lernte und ist Detailhandelsverkäuferin. Siegenthaler hat die Primar- und Sekundarschule jahrgangsdurchmischt durchlaufen. Nach der Matura am Gymnasium in Thun studierte er in Bern Geschichte und schloss mit einem Master in Volkswirtschaft ab. An der Konjunkturforschungsstelle (KOF) der ETH Zürich forschte er im Rahmen seiner Dissertation zum Schweizer Arbeitsmarkt. Nach seiner Promotion setzte er seine Forschung ein Jahr an der Universität Berkeley in Kalifornien fort.

Seit Anfang 2022 ist Siegenthaler Leiter des Forschungsbereichs Schweizer Arbeitsmarkt an der KOF. Im Rahmen seiner Tätigkeit berät er das EDA, das SECO, das SEM oder nichtstaatliche Organisationen wie den Arbeitgeberverband. Er hat zahlreiche Forschungsartikel zum Arbeitsmarkt veröffentlicht, unter anderem im renommierten Wissenschaftsjournal «Nature».

Siegenthaler lebt mit seiner Partnerin und den zwei Kindern im Vorschulalter in Zürich.