In den letzten 20 Jahren hat sich das Lernen an der Volksschule durch den Wechsel zur integrativen Schule, die neuen Schulleitungen und die tertiäre Lehrpersonenausbildung stark verändert. Häufig hat sich die Schule aber einfach an neue gesellschaftliche Gegebenheiten angepasst. Ein Beispiel dafür ist der digitale Wandel, der das Lernen in der Zukunft prägen wird.
Fragt man Regula von Felten, inwiefern sich das Lernen in den letzten 20 Jahren verändert hat, erhält man eine überraschende Antwort. «Eigentlich hat sich das Lernen überhaupt nicht verändert. Lernen bedeutet immer noch bedeutungsvolles Wissen zu erarbeiten, das man sinnvoll anwenden kann», sagt die Dozentin für Bildung und Erziehung auf der Eingangsstufe an der PH Zürich. Die hirnphysiologischen Voraussetzungen fürs Lernen hätten sich in dieser Zeit nicht verändert. Und noch immer bedeute Lernen, sich auf die Weiterentwicklung des eigenen Denkens einzulassen, so von Felten. Verändert hätten sich lediglich die Rahmenbedingungen an den Schulen. Und diese haben sich insbesondere auf der Kindergarten- und Primarstufe stark gewandelt.
Einen klaren Umbruch für das Lernen im Kanton Zürich brachte das neue Volksschulgesetz von 2005, das die Individualisierung des Lernens deutlich vorantrieb. So forderte der Wechsel zur integrativen Schule einen stärker individualisierten Unterricht. Nur so konnten Lehrpersonen der grösseren Heterogenität in ihrer Klasse gerecht werden. Zudem konnten die Rahmenbedingungen für das Lernen an den Schulen durch die neu eingesetzten Schulleitungen stärker an die Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler angepasst werden. Wenn von Felten über die wichtigsten Änderungen des neuen Volksschulgesetzes spricht, streicht sie eine weitere Änderung heraus, die für das Lernen im Kindergarten und auf der Primarstufe prägend war: Die Einführung von Blockzeiten und Tagesstrukturen. Während beispielsweise Erstklässlerinnen und Erstklässler an gewissen Tagen bloss zwei Lektionen am Morgen und zwei am Nachmittag hatten, sah der Stundenplan fortan für alle Zürcher Schülerinnen und Schüler einen vollen Morgen vor, und viele Schülerinnen und Schüler verbrachten auch die Mittagszeit an der Schule. «Eine solche strukturelle Änderung hat Auswirkungen auf die Unterrichtsgestaltung», sagt von Felten. Wenn Kinder so viele Stunden am Stück in der Schule verbringen, muss das Spiel zwingend in den Unterricht mit einbezogen werden. Die Rahmenbedingungen auf der Eingangsstufe veränderten sich auch mit dem im Kanton Zürich 2008 eingeführten Kindergartenobligatorium. Es legte die Grundlage für einen systematischeren Aufbau bestimmter Kompetenzen ab dem Kindergartenalter.
Grundstufe scheiterte an der Urne
Aufgrund dieser neuen Gegebenheiten wurden die Versuche mit einer altersdurchmischten Grundstufe, in der Kindergarten und erste Primarschulklasse zusammenfallen, in vielen Gemeinden intensiviert. «Die Idee war, dass die Kinder in dieser Grundstufe besser individuell gefördert werden konnten», sagt von Felten. Dass also Kinder, die schon früh am Lesen, Schreiben und Rechnen interessiert sind, diesem Interesse schon vor der ersten Primarklasse nachgehen können, während Kinder, die noch nicht bereit für die erste Klasse sind, ein Jahr länger in der Grundstufe bleiben können. Doch der Versuch blieb ein Versuch. Die Begleitevaluation zeigte, dass positive Effekte der Frühförderung nach einigen Jahren verpufften, während das teurere Modell der Grundstufe ansonsten keine Vorteile, aber auch keine Nachteile brachte. 2012 führte eine kantonale Volksabstimmung zum Aus dieses Modells.
Weshalb führt von Felten gerade diesen gescheiterten Schulversuch aus, wenn sie über die letzten 20 Jahre Lernen an der Volksschule spricht? «Viele Ideen dieses Eingangsstufenmodells wurden vom Lehrplan 21 und in der heutigen Ausbildung von Lehrpersonen aufgenommen», erklärt von Felten. So werden der Kindergarten und die ersten beiden Primarklassen im Lehrplan 21 zum ersten Zyklus zusammengefasst, und in der Ausbildung an der PH Zürich erwerben Lehrpersonen mit ihrer Ausbildung für die Kindergarten- und Unterstufe (1.–3. Primarklasse) heute ein Lehrdiplom für diese beiden Stufen. «Damit wird man der Erkenntnis gerecht, dass Kinder nicht einfach zu spielen aufhören, nur weil sie in die Primarschule übertreten», sagt von Felten. Sie geht davon aus, dass der Einbezug des Spielens als Lernform in Zukunft in der Schule noch wichtiger wird, ebenso auf höheren Stufen. Zudem ist sie überzeugt, dass das Lernen im Vorschulalter künftig an Bedeutung gewinnen werde. Darauf deuteten nicht nur Forschungsergebnisse zur Relevanz der frühkindlichen Förderung hin, sondern auch die Diskussionen um Bildungskrippen mit Qualitätslabels.
Die Schule passt sich an
Dass das frühkindliche Lernen künftig an Bedeutung gewinnen wird, ist nur ein Beispiel dafür, dass Veränderungen der Lernbedingungen häufig von gesellschaftlichen Entwicklungen angestossen werden. Auch die Einführung der Blockzeiten und die damit verbundenen Folgen für den Unterricht folgte nicht pädagogischen oder didaktischen Überlegungen, sondern Forderungen nach einer besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Entwicklungen ausserhalb der Schule erwähnt auch Christine Wolfgramm, Professorin für Bildung und Erziehung auf der Sekundarstufe I an der PH Zürich, wenn sie über eine prägende Veränderung des Lernens auf der Sekundarstufe I spricht: das selbstorganisierte Lernen. «Dieses Modell ist eine Reaktion auf die grössere Heterogenität in den Klassen und der Versuch, den Niveauunterschieden einer integrativen Schule gerecht zu werden», sagt Wolfgramm. Gleichzeitig könne man die Entwicklung hin zum selbstregulierten Lernen und der vermehrten Arbeit an Projekten durchaus auch als Vorbereitung auf die späteren Arbeitsbedingungen betrachten. Oder zugespitzt formuliert, als Angleichung an die Realitäten in Grossraumbüros und die Tatsache, dass man sich im Beruf immer weiterentwickeln müsse. «Die Schülerinnen und Schüler sollen damit lernen, wie sie sich später weitere Kompetenzen selbständig erarbeiten können», sagt Christine Wolfgramm.
In der Praxis wird das selbstorganisierte Lernen heute sehr unterschiedlich gewichtet: von Schulen, an denen lediglich vier Stunden pro Woche für selbstorganisiertes Lernen zur Verfügung stehen, bis zur Atelierschule, wo das selbständige Arbeiten einen Grossteil der Unterrichtszeit ausmacht und die Schülerinnen und Schüler keine Klassenlehrperson haben, sondern einen Lerncoach, mit dem sie ihren Lernprozess und ihre Fortschritte regelmässig besprechen. «Die Vielfalt der praktizierten Modelle weist auch auf die wichtige Rolle der Schulleitungen hin, wenn es um Veränderungen der Lernbedingungen geht», sagt Wolfgramm. Überhaupt sei die Einführung von geleiteten Schulen ein starker Treiber für Entwicklungen an den Schulen der letzten Jahre gewesen. «Die Schulen haben nicht nur mehr Freiheit erhalten, um neue Wege zu gehen. Die Schulleitungen wurden ebenso aufgefordert, Leitbilder zu verfassen und an ihren Schulen Schwerpunkte zu setzen», so Christine Wolfgramm.
Wenn auch nicht unmittelbar, hatte die Gründung der Pädagogischen Hochschulen doch einen wichtigen Einfluss auf die Entwicklung der Schule. Mit der Tertiarisierung der Lehrerinnen- und Lehrerbildung ging gemäss Wolfgramm nämlich eine Stärkung der evidenzbasierten, also auf Forschungsergebnissen beruhenden Schulentwicklung einher. «An den Pädagogischen Hochschulen kommen die angehenden Lehrpersonen stärker mit empirischer Bildungsforschung in Berührung und lernen, diese Resultate für ihren Unterricht zu nutzen», sagt Wolfgramm. Einen wichtigen Beitrag zu dieser Entwicklung habe allerdings auch die Studie von John Hattie aus dem Jahr 2009 geleistet, die empirisch untersuchte, welche Aspekte des Unterrichts einen positiven Effekt auf das Lernen haben. «Eine Kernbotschaft der Studie ist, dass Lehrpersonen das Lernen der Schülerinnen und Schüler durch kleine Veränderungen ihres Unterrichts verbessern können», sagt Christine Wolfgramm. Heute sei nicht nur das Bewusstsein viel stärker verbreitet, dass die Lehrerinnen und Lehrer selbst lernende Personen sind, sondern ebenso die Bereitschaft zur Selbstreflexion und zum Austausch mit Kolleginnen und Kollegen. Beides sind wichtige Elemente, damit erwünschte Veränderungen im Schulalltag tatsächlich umgesetzt werden.
Neben solchen grundlegenden Veränderungen des Lernens und Unterrichtens weist Wolfgramm auf Themen hin, die in den letzten 20 Jahren an der Schule an Bedeutung gewonnen haben und das Lernen von Schülerinnen und Schülern positiv beeinflussen. Dazu gehören die Sensibilisierung für Mobbing, ADHS oder Begabungsförderung. Und wenn sie in die Zukunft blickte, dürften Themen wie Queerness, positive Psychologie, Achtsamkeit und Gesundheit den Schulalltag noch stärker prägen. Viele dieser Themen werden vom Lehrplan 21 aufgenommen, der nicht nur den Richtungswechsel von einem inhaltsbasierten Unterricht auf einen kompetenzorientierten Unterricht vollzog, sondern zusätzlich neue inhaltliche Schwerpunkte setzte.
Datafizierung des Lernens
Auch im Hinblick auf die vielleicht prägendste gesellschaftliche Entwicklung der letzten 20 Jahre, die Digitalisierung unseres Alltags, wurde mit dem Lehrplan 21 eine wichtige Entwicklung an den Schulen beschleunigt. «Der Lehrplan 21 macht deutlich, dass Medienbildung und Informatik zusammengehören und Anwendungskompetenzen integrativ im Unterricht vermittelt werden sollen», sagt Tobias Röhl, Professor für Mediendidaktik an der PH Zürich. Er erinnert daran, dass Informatikunterricht vor 20 Jahren, wenn überhaupt, in einem separaten Computerraum stattfand und vor allem Anwendungskompetenzen in Word oder Excel beinhaltete. Verbindungen zu gesellschaftlichen Fragen wurden kaum gemacht. «Das war damals nicht völlig falsch. Doch heute, wo unser Alltag von digitalen Medien durchdrungen ist, können Anwendungskompetenzen, Medienbildung und informatische Bildung nicht mehr getrennt voneinander gedacht werden», so Röhl. Wer soziale Medien nutzt, sollte sich der Problematik von Filterblasen bewusst sein. Und wer über eine Suchmaschine recherchiert, sollte die grundlegenden Funktionsweisen von Suchalgorithmen kennen.
Wo digitale Medien im Unterricht nicht mehr als Selbstzweck genutzt, sondern gezielt als Tools, mitunter zur Informationsbeschaffung, eingesetzt werden, verändert sich die Rolle der Lehrperson. «Die Lehrperson ist nicht mehr die klassische Wissensautorität, wenn Schülerinnen oder Schüler Wissen auf Wikipedia sekundenschnell abrufen können», erläutert Tobias Röhl. So leisten digitale Medien auch ihren Beitrag zur viel zitierten Entwicklung der Rolle der Lehrperson vom Sage on the Stage hin zum Guide on the Side.
Der digitale Wandel an den Schulen wird allerdings nicht nur durch gesellschaftliche Realitäten wie unsere intensive Mediennutzung im Alltag geprägt, sondern ebenso von den Technologieunternehmen. «Das Stichwort hier lautet Datafizierung des Lernens», sagt Röhl. So erhebe etwa Microsoft grosse Datensätze, beispielsweise aus Lernplattformen, die auch von Schulen genutzt werden, um lernförderliche respektive lernhinderliche Faktoren zu identifizieren und Entwicklungen von Lernenden zu prognostizieren. Die Möglichkeiten solcher Programme sind vielfältig: Gewisse Lernprogramme wollen schon nach zwei Wochen die Entwicklung eines Kindes vorhersagen können. Technisch möglich sind auch Beurteilungen von Textaufgaben. Dabei leisten solche Tools einem vergleichenden Bildungsverständnis Vorschub. «Mit digitalen Daten ist ein Vergleich der Lernenden viel einfacher, als wenn man Testresultate nur analog auf Papier hat», erklärt Röhl.
Bisweilen können solche zur Diagnose eingeführten Tools auch ungewollt zu Selektionsmitteln werden. Ein Beispiel dafür ist der Stellwerktest, der eigentlich zur Standortbestimmung für Sekundarschülerinnen und -schüler gedacht war, heute aber von Arbeitgebenden immer öfter als Bestandteil der Bewerbungsunterlagen eingefordert wird.
Röhl ist überzeugt, dass datengestützte Tools künftig gewisse Tätigkeiten von Lehrpersonen übernehmen werden. Ein Beispiel dafür sind adaptive Lernsysteme, die den Schwierigkeitsgrad der Aufgaben dem Niveau der Lernenden anpassen. «Ich glaube aber nicht, dass Schülerinnen und Schüler nur noch vor adaptiven Lernsystemen arbeiten werden», so Röhl. Zudem brauche es angesichts dieser datengestützten Analysetools, die Lehrpersonen bei der Einschätzung der Lernenden helfen, ein Bewusstsein dafür, dass diese Tools nur einen sehr limitierten Blick auf Schülerinnen und Schüler erlauben und die umfassende Beurteilung der Lehrperson nie ersetzen können.
Vieles bleibt gleich
Für die nächsten 20 Jahre sieht Tobias Röhl eine breitere und vielfältigere Nutzung von digitalen Medien im Unterricht voraus, welche die Individualisierung des Lernens noch stärker vorantreiben wird und damit verbunden eine Flexibilisierung der Lernräume. Damit einhergehend wird der sogenannte Flipped Classroom, der in der Pandemie bekannter wurde, auch auf der Sekundarstufe an Bedeutung gewinnen. Das didaktische Modell sieht vor, dass die Instruktion nicht mehr in Gruppensettings stattfindet und das Üben individuell, sondern dass sich die Schülerinnen und Schüler Inhalte individuell aneignen, etwa über Videos, und diese dann gemeinsam vertiefen. Für die Volksschule bedeutet das, dass Schülerinnen und Schüler kaum mehr 45 Minuten am gleichen Platz lernen, sondern für ruhige Einzelarbeiten, eine Internetrecherche oder Gruppenarbeit unterschiedliche Plätze nutzen.
Obwohl diese Entwicklungen die Raumbedingungen an Schulen verändern, sagt Tobias Röhl: «Die Volksschule wird in 20 Jahren nicht komplett anders aussehen.» Er verweist dabei auf die sogenannte Grammar of Schooling: All die ausgesprochenen und unausgesprochenen Regeln, die Schulen als Institution ausmachen, sind in den letzten 150 Jahren relativ stabil geblieben. Das hat gemäss Röhl mit gesellschaftlichen Vorstellungen und Erwartungen an die Schule zu tun, aber ebenso mit gewissen Grundsätzen der Volksschule. Allein die Forderung, dass die Schule eine Selektion ermöglichen soll, wirke einer Stärkung des kollaborativen Arbeitens entgegen, weil Gruppenarbeiten eine individuelle Beurteilung grundsätzlich erschweren. Dass die Institution Volksschule ein relativ träges System ist, verdeutlicht allerdings auch ihre wichtige Bedeutung: Mit einem zentralen Pfeiler der Gesellschaft macht man keine riskanten Experimente mit ungewissem Ausgang.