Mit sogenannten Virtual-Reality-Brillen tauchen Lernende in künstliche Umgebungen ein und sammeln so praktische Erfahrungen. Die Technologie kann insbesondere in der beruflichen Grundbildung hilfreich sein, da in vielen Betrieben reale Übungsmöglichkeiten fehlen. Ein Projekt der PH Zürich untersucht nun den Nutzen solcher Brillen.
An seiner Lehrabschlussprüfung musste Atilla Abul eine sogenannte Erstprüfung einer elektrischen Anlage durchführen. Die Kontrolle ist aus Sicherheitsgründen bei jeder neuen elektrischen Installation vorgeschrieben. In seinem Ausbildungsbetrieb hatte der 19-Jährige aber während der gesamten drei Jahre nie die Gelegenheit erhalten, diesen Test auf einer Baustelle mitzuerleben. Deshalb war der angehende Montage-Elektriker froh, dass er dank einer neuen Lerntechnologie doch noch zum Üben kam: Das Unternehmen stellte ihm eine Virtual-Reality-Brille zur Verfügung, auf welcher der Vorgang realitätsnah programmiert wurde. Wer sich das Gerät vor den Augen montiert, findet sich unmittelbar in einer virtuellen Garage mit diversen elektrischen Installationen wieder. Mit zwei Controllern, die in den Händen gehalten werden, kann man die nötigen Handgriffe ausführen. «Beim ersten Mal war das schon ziemlich speziell», sagt Abul. Doch er habe sich schnell an die Umgebung und das Hantieren mit virtuellen Händen gewöhnt. Zudem schätzte er die Erklärungen, die er abrufen konnte, wenn er bei einer Aufgabe anstand.
Mehrwert noch wenig erforscht
Die Anwendung wurde von der PH Zürich gemeinsam mit der ZHAW entwickelt. Die virtuell ausgeführten Messungen von Parametern wie elektrische Leitfähigkeit, Isolationswiderstand und Kurzschlussstrom sind mit theoretischen Inputs verbunden. Zudem können die Lernenden gemäss dem Ansatz der Gamification wie bei einem Computerspiel Punkte sammeln. Das didaktische Konzept stammt von Martin Berger, Dozent an der PH Zürich. Einzelne Unternehmen hätten in den letzten Jahren zwar VR-Lernumgebungen eingerichtet, weiss Berger. «Doch in der beruflichen Grundbildung ist Virtual Reality noch kaum angekommen.» Zudem sei der Mehrwert für das Erlernen komplexer Handlungskompetenzen noch wenig erforscht. Dass die Berufsbildung auf die drei Lernorte Betrieb, Berufsfachschule und Überbetriebliche Kurse verteilt ist, erschwert die Verknüpfung von Theorie und Praxis. In diesem Punkt erhofft man sich eine Verbesserung.
Bei der virtuellen Umgebung für Lernende in Elektroberufen handelt es sich um einen Prototypen, der derzeit getestet wird. In einer ersten Phase haben 35 Lernende mit den VR-Brillen in ihren Betrieben oder zu Hause mindestens viermal geübt. Ihr Abschneiden bei der Lehrabschlussprüfung soll nun mit den Erfolgen einer gleich grossen Gruppe verglichen werden, die sich mit herkömmlichen Lernmitteln vorbereitet hat. «Uns interessiert, ob die neue handlungsorientierte Methode zu besseren Noten führt», sagt Berger. «Einen Gewinn dürfte die Technologie vor allem für Lernende mit dreijährigen Ausbildungen darstellen, deren Lesekompetenzen häufig mangelhaft sind.»
Das Interesse der Jugendlichen wecken
Darauf hofft auch Ermano Bertinelli, Leiter Ausbildung beim Konzern BKW Building Solutions, einem Netzwerk von 50 Unternehmen, die in den Bereichen Energie, Gebäudetechnik und Infrastruktur tätig sind und gegen 400 Lernende in Elektroberufen ausbilden. Die VR-Brillen wurden von Lernenden dieser Betriebe angewandt. «Das grösste Problem in der Berufsbildung ist es, das Interesse der Jugendlichen zu wecken», erklärt Bertinelli. «Mit dem spielerischen Ansatz wollen wir ihre Motivation zum Lernen stärken.»
Natürlich könne das Gadget das Üben in der Realität zusammen mit einer Fachperson nicht ersetzen, stellt Bertinelli klar. Doch in den Berufsfachschulen und Betrieben seien häufig zu wenig Montagetafeln und Messgeräte vorhanden, um alle gleichzeitig zu beschäftigen. Die Messgeräte sind zudem teuer, weshalb manche Betriebe sie den Lernenden nicht gern anvertrauen. Oft fehlt im dicht getakteten Arbeitsalltag auch die Zeit, um mit den Lernenden ausführlich zu üben.
Sicherheit, Spass und Abwechslung
Grosses Potenzial sieht der Ausbildner auch beim Thema Arbeitssicherheit: «Es wäre super, wenn wir riskante Situationen virtuell simulieren könnten, ohne Menschen zu gefährden.» Dabei denkt er etwa an die Absturzgefahr auf einer Baustelle, das Anstellen einer Leiter oder von einem Kran herunterfallende Bauteile. Von derartigen Szenarien könnten neben Lernenden auch andere Mitarbeitende profitieren. Mögliche weitere Anwendungen sieht Projektinitiant Martin Berger in anderen Handwerksberufen, im Detailhandel, bei Gesundheitsberufen sowie im Bankenwesen. Letztlich könnten für fast alle Branchen realitätsnahe virtuelle Umgebungen designt werden. In der Volksschule wird bereits heute mit Apps gearbeitet, die andere Umgebungen erlebbar machen. Darüber hinaus wären gemäss Berger virtuelle Anwendungen interessant, mit denen Schülerinnen und Schüler Handlungskompetenzen trainieren können.
Am Projekt beteiligt ist unter anderem die Organisation Helvetas, die derzeit ein entsprechendes Gerät in Tansania testet. Denn neben dem Einsatz in der Schweiz soll das Potenzial von Virtual Reality in Entwicklungsländern ermitteln werden. Die neue Lerngelegenheit schaffe mehr Fairness, sagt Martin Berger. «Nicht alle Lernenden lernen im Ausbildungsbetrieb das ganze Spektrum an Tätigkeiten kennen, die für den Beruf erforderlich sind.» Zudem sei es ihnen damit erlaubt, Fehler zu machen – während gerade zum Beispiel beim Hantieren mit elektrischen Anlagen gefährliche Situationen entstehen können. Ein Ziel der Entwicklung sei, eine intuitive Bedienung zu ermöglichen. Die meisten Jugendlichen würden sich mit dem Gerät von selber zurechtfinden, ist der Erziehungswissenschaftler überzeugt. Die VR-Brille biete ihnen eine Abwechslung vom Berufsalltag und auch Spass. «Ein Nebeneffekt, der aus lernpsychologischer Sicht durchaus nicht schlecht ist.»