Was passiert mit einem Bildungsprojekt im Krieg? Die ukrainische Bildungsexpertin Valentyna Poltorak leitet das schweizerisch-ukrainische Demokratiebildungsprojekt Decide, an dem auch die PH Zürich beteiligt ist. Sie berichtet, wie sie und ihr Projektteam Kinder und Lehrpersonen auf der Flucht unterstützen.
Für uns vom Projektteam «Decentralization for Improved Democratic Education» (Decide) war es keine Frage, dass wir trotz dem Krieg weiterarbeiteten. Es blieb uns keine Wahl. Denn schon nach den ersten Bombenangriffen auf unser Land war klar, dass in vielen Schulen nicht mehr unterrichtet werden kann. Was konnten wir anderes tun, als uns weiterhin für die Bildung engagieren?
Ich lebte vor dem Krieg in Kiew und flüchtete nach den Bombenangriffen zusammen mit unzähligen anderen in den Westen der Ukraine. Von dort aus arbeiten wir am Projekt Decide weiter. Es hat zum Ziel, die Bildungs- und Dezentralisierungsreformen in der Ukraine zu unterstützen. Die PH Zürich arbeitet in diesem Projekt mit. Es wird von der NGO DOCCU, die ich mitbegründet habe, durchgeführt. Das Ziel des Projekts haben wir nicht aus den Augen verloren, aber mit jedem neuen Kriegstag kommen nun andere Aufgaben auf uns zu. Schon am ersten Tag des Krieges, als ich noch in Kiew war, richtete ich eine Anfrage an unsere Geldgeber und Partner, darunter die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza). Wir planten humanitäre Hilfe, weil es schnell klar war, dass wir Notunterkünfte in Schulen einrichten mussten.
Anfangs war es schwierig zu arbeiten. Wir waren unruhig, wussten nicht, wer wo ist und was als Nächstes passieren wird. Zu einigen Projektkoordinatoren in den besetzten Regionen von Luhansk haben wir leider den Kontakt verloren. Weil wir in unserem Projekt Schulen und lokale Verwaltungen bei der Gestaltung von demokratisch aufgebauten Lebensräumen und Prozessen beraten, verfügen wir über ein grosses Netzwerk. So konnten wir schnell Unterstützung anbieten. Uns erreichen sehr viele Fragen von Lehrpersonen, Schulleitenden und Gemeindemitgliedern. Dabei geht es zum Beispiel um Rechtsberatungen oder die Frage, wie man verlorene Zeugnisse und Zertifikate erneuert.
Stütze für Lehrpersonen, Kinder und Eltern
Seit Beginn des Krieges wurden mehr als 1900 Schulen zerstört, laut Schätzungen sind mehr als 1,5 Millionen Kinder auf der Flucht. Lehrpersonen müssen nun nicht nur Kinder aus verschiedenen Gegenden und mit einem unterschiedlichen Bildungsniveau zusammen mit der angestammten Klasse unterrichten,
sie sind auch selber vom Krieg bedroht. Unterrichten im Krieg ist eine enorme Herausforderung. Wir beraten deshalb Lehrpersonen und suchen zusammen mit dem Ministerium für Bildung und Wissenschaft nach Lösungen. Damit wir diese Hilfe effizient gestalten können, haben wir einen Chat eingerichtet und wir halten Webinare ab. Bisher haben mehr als 100’000 Personen daran teilgenommen. Einige Webinare richten sich an ukrainische Lehrpersonen im Land, andere an Lehrpersonen im Ausland, die Kinder aus der Ukraine in ihren Klasse unterrichten. Wir erklären ihnen unter anderem das ukrainische Bildungssystem und seine Lehrpläne. Wir unterstützen auch Schulleitende. Denn viele bleiben wenn immer möglich im Land vor Ort. Sie sind eine wichtige psychologische Stütze für Lehrpersonen, Schülerinnen und Schüler und Eltern.
Breite Unterstützung
Der Zusammenhalt in unserem Land ist enorm. Nicht nur wir vom Projektteam und unsere Partner-NGO halten zusammen, sondern die gesamte Bevölkerung hilft sich gegenseitig. Natürlich packen auch wir mit an. Am Abend und am Wochenende sortieren und verteilen wir Kleider und Schulmaterialien, die uns gespendet wurden oder die wir mit den finanziellen Mitteln der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza) gekauft haben. Bereits haben wir tausende Sets mit Bettwäsche und Hygieneartikeln an neu ankommende Flüchtlinge abgegeben. Viele von ihnen leben in Schulen, die als Notunterkünfte dienen.
Dank der Spendenaktion «We stand with Ukraine», die von Studierenden und Mitarbeitenden der PH Zürich organisiert wurde, konnten wir zusätzliche Schulmaterialien und Spiele kaufen. Das hat uns sehr geholfen.
In die Zukunft schauen
Wir glauben fest daran, dass der Krieg bald vorbei ist. Tatsache ist aber, dass die meisten Binnenflüchtlinge nicht sofort in ihre angestammten Regionen zurückkehren können, denn ihre Städte, Dörfer und Häuser sind zerstört. Für sie ist es nicht nur wichtig, dass sie eine Unterkunft und eine Arbeit haben, sondern auch, dass sie am Leben in der neuen Gemeinde teilhaben können. Weil unser Projekt Decide auf das Zusammenspiel von Schule und Gemeinde spezialisiert ist, können wir schnell geeignete Programme zusammenstellen. Es geht darum, dass die neu zugezogenen Kinder und ihre Eltern soziale und kulturelle Unterschiede überwinden können. Hier helfen ausserschulische Projekte wie zum Beispiel die gemeinsame Gestaltung von Quartiertreffs für Kinder und deren Eltern.
Mir ist bewusst, dass es Jahre dauern wird, bis wir in der Ukraine wieder jedem Kind und allen Jugendlichen eine qualitativ hochstehende Bildung gewähren können. Aber jeden Tag erhalten wir so viele aufmunternde Worte von Lehrkräften aus ganz verschiedenen Ländern. Das gibt uns viel Kraft.